Deshalb: »Lasst uns über alle Vorstellungen hinausgehen, darüber hinaus und noch jenseits des Darüberhinaus und völlig erwachen. So sei es!«
Gate Gate Parasamgate Bodhi Svaha!
Mit diesen Worten am Ende des Herz-Sutras, welches viele Male am Tag in jedem Zen-Kloster rezitiert wird, bekräftigen wir unsere Motivation zum Wohl aller Wesen, die vollkommene Erleuchtung zu realisieren, um so fähig zu werden, allen Wesen zu ihrer ursprünglichen Freiheit zu verhelfen, wissend, dass sie im Grunde bereits frei und erleuchtet sind!
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Der Vergänglichkeit aller Erscheinungen gewahr werden
Der Gedanke an die Vergänglichkeit aller irdischen Dinge ist ein Quell unendlichen Leids – und ein Quell unendlichen Trostes.
Marie von Ebner-Eschenbach
The golden leafs, that jewell the ground,they know the art of dying,they leave with joy their glad gold hearts,in the silent shadow lying.
The Incredible String Band
Wer sich der Vergänglichkeit gewahr wird, dem schwindet aller Lebensdurst dahin.
Tantra der Vereinigung von Sonne und Mond
Von allen Spuren ist die des Elefanten die größte. Von allen Achtsamkeitsmeditationen ist die, der Vergänglichkeit gewahr zu sein, die höchste.
Buddha Shakyamuni
Woran der eine leidet, weil es seiner Anhaftung und seinem Streben zuwiderläuft, das ist dem anderen Anlass zur Freude und ein ständiger Garant der sicheren Erlösung alles Seienden.
Möchten wir nicht alle, dass etwas für uns Schmerzliches möglichst schnell vorübergeht, und sind wir dann nicht froh über Vergänglichkeit; und wer wünschte sich nicht, dass ein glückliches Erleben länger dauern möge und dass uns Abschied, Verlust und Tod noch lange nicht ereilen?
Alle Wesen fliehen das Unangenehme und wollen es nach Möglichkeit nicht mehr erleben, und sie suchen das Angenehme und wollen es immer wieder erleben und wiederholen.
Das ist auch aus der Verhaltensforschung gut bekannt, und der Mensch reagiert hier nicht anders als alle anderen fühlenden Wesen. Genau das verbindet uns, und dieses Fühlen und Sich-Hinfühlen an das Glück als optimaler Erlebensmodus ist die Basis für alles Mitgefühl und für alles aus der Empathie wachsende Verstehen des Sinns.
Die Verdrängung der Vergänglichkeit kontrastierend, ja, die Vergänglichkeit als Lehrer in der Lebenskunst des Nicht-Verweilens und als sublime, von allem Angenommenen befreiende Tröstung erkennend, nimmt der Mensch, der sich geistiger Einsicht und Selbsterkenntnis öffnet, den »Bruder Tod« als ständigen Wegbegleiter an. Ohne einen vorzeitigen Tod zu suchen, stellt er sich der Herausforderung, der Entmachtung des Egos in der Krankheit und akzeptiert das Altern und die Schwächung des Körpers in der letzten Lebensphase, und er reift durch sie.
Der Vergänglichkeit und der Vanitas aller Erscheinungen gewahr, können wir uns gewiss sein, dass es, wie in den Worten des Ave Maria so wunderbar ausgedrückt, in dieser Welt nur zwei Momente gibt, die uns sicher sind: »das Jetzt« und »die Stunde unseres Todes« – nunc et hora mortis nostrae. Genau jetzt, in diesem präzisen, ewigen Augenblick reinen Gewahrseins, sind Leben und Tod eins, sind Form und Formlosigkeit eins, wenn wir in nichts verweilen.
In etwas zu verweilen ist Evasion, ist Erinnerung oder Erwartung und Festhalten an der fixen Idee von etwas Bleibendem in einer fließenden Welt, die uns in jedem Augenblick entschwindet und ihre Vergänglichkeit beweist. Als menschliche Wesen fühlen wir eine ungreifbare Unzufriedenheit und Unsicherheit in uns, die daher rührt, dass wir nicht wirklich wissen, was und wer wir sind.
Natürlich zeigen wir unsere Unsicherheit nicht gern, lassen es nicht gern an die Oberfläche kommen oder sich äußern, aber es nagt an uns, denn wir fühlen, dass wir unserem Selbstbild nicht trauen können, ist es doch recht zerbrechlich und muss mühsam gegen Selbstzweifel und Kritik von außen geschützt werden. Wir spüren, dass diese Vorstellung von uns selbst etwas sehr Ephemeres ist – etwas Konstruiertes, das immer bedroht ist von Auflösung. Wir erzählen uns ständig selbst, was wir sind, und unsere inneren Dialoge basieren alle auf der Annahme, dass wir etwas Besonderes sind – verschieden von der Welt und anders als die »anderen«, besser als die anderen oder auch schlechter. So oder so – es ändert nichts an unserer Grundauffassung; denn diese Vorstellung, getrennt und anders zu sein, ist die Basis unseres Selbstbewusstseins, und sie ist der Grund für unser Ichgefühl und seine inhärente Unruhe.
Die Überzeugung, ein abgetrenntes Ich zu sein, wird ausgeschmückt, gestärkt und genährt von falschen Identitäten oder Selbstvorstellungen wie »Ich bin … so und so« oder »Nein … so und so bin ich nicht«. Was immer wir von uns glauben, die Meinung, die wir von uns selbst und unserer Geschichte haben und bewahren, sehen wir in wunderbarer Weise auch von unserer Umgebung bestätigt. Unsere Ausstrahlung oder Projektion strahlt zurück auf uns selbst. Auch ist unsere Konstruktion verknüpft mit der Vorstellung, die sich unsere Eltern und andere uns prägende Personen über uns gebildet, geäußert oder nicht, und bewusst oder unbewusst, in grober oder subliminaler Form auf uns übertragen haben. Es ist deshalb ein schwieriges Unterfangen und eine große Herausforderung, die Illusion des eigenen Ichs und seiner Überzeugungen und Glaubenssätze zu dekonstruieren. Immer wenn wir »über uns selbst« nachdenken, wird unser Ich aufgeladen; und jeder dieser selbstbezogenen Gedanken ist wie ein neuer Stein, der, ob wir es bewusst tun oder unbewusst, unser illusorisches Selbstbild untermauert.
Aber gleichzeitig ist in uns der berechtigte Verdacht, dass diese Konstruktion sehr zerbrechlich ist. Wir identifizieren uns gewohnheitsmäßig und ganz selbstverständlich mit den fünf Komponenten oder »Skhandas« unseres Erlebens, das heißt also mit unserem Körper, unseren Empfindungen, unseren Gedanken, mit dem, was wir mögen und nicht mögen oder wollen, und mit dem Bewusstsein, das diese Erlebnisse verarbeitet. Hierbei ergreifen wir vor allem unser Denkbewusstsein, obwohl es selbst ja nur eine Wahrnehmung ist, fälschlicherweise als den Wahrnehmenden. Dieser Wahrnehmende sagt: »Ich habe das so oder so empfunden.« Dieses Ich sagt: »Ich finde das gut.« Oder: »Ich finde das nicht gut, weil …« Und so weiter.
Nun wird die Identifikation mit dem Körper belastend und erzeugt Leid, wenn wir eine schiefe Nase haben oder wenn wir altern und unser Bild im Spiegel immer mehr Falten bekommt, während unsere Identifikation mit Vorstellungen belastend und anstrengend, ja beängstigend und leidvoll wird, wenn diese infrage gestellt oder kritisiert werden. Das Leben arbeitet mit seiner Vergänglichkeit immer daran, uns zu enttäuschen und uns jeden falschen Halt zu nehmen. Und unsere innere Weisheit, die nicht zulässt, dass wir uns selbst betrügen, und die uns nicht erlaubt, in Lüge und Unwahrheit oder falschem Handeln Ruhe zu finden, zeigt uns mit Unzufriedenheit und seelischer Unruhe, dass etwas in uns nicht stimmt und nicht mit dem »Sinn«, dem »Tao« in Einklang ist. Auf diese Unzufriedenheit über das eigene Leben oder »Dukkha« können wir reagieren. Wir können sie verdrängen und versuchen, sie mit mehr Aktivitäten und Zerstreuungen zu überdecken, und damit vor uns selbst fliehen. Doch dadurch wird die Spannung der Grundangst eher verstärkt. Je mehr man verdrängt und sich verteidigt, umso dicker ist der Panzer, in dem man sich eingeschlossen wähnt, und umso größer die Verletzlichkeit und Angreifbarkeit.
»Fliehe