Dies entspricht also der Aussage des Tibetischen Totenbuchs, dass der Verstorbene im Jenseits über eine neunmal stärkere Luzidität verfügt als im physischen Körper.
Menschsein als einmalige Chance, völlige Erleuchtung zu erlangen
In dieser Welt als Mensch geboren zu werden ist der Lehre des Buddha nach eine einmalige Chance, denn nur als Mensch hat man genügend Intelligenz, um die befreienden Lehren zu verstehen, und gleichzeitig das richtige Maß an Leidensdruck, um sie in die Tat umzusetzen.
Nur jetzt in dieser menschlichen Existenz besitzen wir eine gewisse Entscheidungsfreiheit in Bezug auf unsere Taten und ein Maß an Vernunft und Erinnerung, welche uns den Zusammenhang von Ursache und Wirkung erkennen lassen. Wir besitzen im Grunde eine Geistesklarheit oder Luzidität, welche, wenn es gelingt, sie zu fördern und von den Schleiern des konzeptuellen Denkens und der Störgefühle zu befreien, die wahre Natur der Erscheinungen und die des erkennenden Geistes intuitiv verstehen kann; und es ist allein das Erkennen der Wahrheit, das uns von Täuschung und damit von Leid befreien kann.
Durch unmittelbare Wahrheitsschau und Selbsterkenntnis, luzide geworden im höchsten Sinn, erkennen wir uns schließlich als immer schon frei von jeder eingebildeten Begrenzung und werden frei von Fehlwahrnehmungen und Traumbefangenheit. Dann sind wir Buddha.
Als Mensch können wir in diesem Leben Buddha werden – aber das Leben ist kurz, und keiner von uns weiß, ob er am morgigen Tag noch lebt, denn gestorben wird in jedem Alter und aus vielen Ursachen. Sicher ist nur, dass wir sterben werden, so wie alle Menschen vor uns und so wie die vielen unserer Bekannten und Verwandten, welche uns in diesem Leben bereits vorausgegangen sind.
»Mache ein stetes Gedenken des Todes zur Richtschnur für all dein Handeln«, so ermahnte der Stoiker Marc Aurel sich selbst. Wenn ein Mensch in der Perspektive seines nahen Todes lebt, dann wird er Wesentliches von Unwesentlichem und Wichtiges von Unwichtigem klarer trennen können.
Wenn wir uns von unnötigen, zerstreuenden Interessen und selbstauferlegten Ansprüchen, Wichtigkeiten, Aufgaben und Beschäftigungen befreien können, kann jeder weitere Tag, der uns noch bleibt, eine kostbare Gelegenheit für die bewusste Erzeugung von positiven Impulsen in unserem Geistesstrom und die Übung des Ruhens in nichtkonzeptuellem Gewahrsein sein. Durch diese zwei Aspekte der Geistesschulung – also die heilsame, konzentrierte Anwendung des Denkens und das achtsame Ruhen in der Natur des Geistes – können wir unser künftiges Schicksal bleibend zum Positiven hin verändern. Und ist uns ihre Übung so vertraut geworden, dass sie auch im Schlaf weiterwirkt, so wird sie uns sicher auch im Sterben tragen.
Aus der Realisation der Vergänglichkeit unsrer momentan privilegierten Situation kann spontan eine große Wertschätzung für die Kostbarkeit der menschlichen Verkörperung und für die Lebenszeit entstehen, die uns noch vergönnt ist. Besonders das vierte Lebensalter, bei uns mit dem schönen Wort »Ruhestand« umschrieben, ist bei den Indern traditionell der spirituellen Praxis und der Loslösung von allem Weltlichen gewidmet. Die Pflichten und Gedanken eines Haushaltsvorstands werden dann bewusst losgelassen, der Besitz vorab verteilt; und sich von allem Angenommenen und Unnötigen entledigend, kann man in aller Ruhe und Beschaulichkeit die geistige Armut verwirklichen, welche Jesus als selig gepriesen hat und die darin besteht, dass man nichts mehr hat, nichts mehr will und nichts mehr weiß. Der Ruhestand ist für diese Loslösung, für dieses »Sterben vor dem Sterben«, wirklich ideal, wenn man den tiefen Sinn der Geistesschulung verstanden hat.
Könnte es eine bessere Einstimmung auf den Tod als die endgültige Erlösung vom Körper und vom Ich in der Verschmelzung mit dem klaren Licht am Ende des Sterbeprozesses geben, als sich schon vorher darin zu üben, alle Anhaftung aufzugeben und in tiefer Entspannung jede Vorstellung von Körper und Geist abfallen zu lassen? Wie sonst könnte Erlösung geschehen?
Alles loslassen zu können ist immer die Vorbedingung möglicher Befreiung. Niemand anders kann das für uns übernehmen. Wer jetzt nicht Ruhe geben will, der gibt natürlich auch im Postmortem nicht Ruhe und wird sich deshalb wiederverkörpern, auch wenn wir uns wünschen: »Der Herr gebe ihm die ewige Ruhe!«
Auch »Phowa« kann nicht gelingen, »die Übertragung des Bewusstseins in einen Buddha-Bereich«, wenn wir noch an irgendetwas haften, so sagen die Meister.
Stellen wir uns also die Frage, was wirklich wichtig ist angesichts des Todes, der uns jederzeit ereilen kann. Wir werden alles zurücklassen müssen; und nur das Gute, das wir in diesem Leben getan haben, und nur die sichere Ausrichtung und die Gelassenheit, Ruhe und Klarheit unseres Geistes, die wir kultiviert haben, können uns dann noch helfen und von größtem Nutzen sein.
In seiner Schrift Von der Kürze des Lebens betonte Seneca, dass man immer eingedenk der Unausweichlichkeit und Nichtvoraussagbarkeit des Todes jeden Tag weise nutzen und in Vorbereitung auf das Sterben leben sollte. Er sah, wie Marc Aurel, Leben und Tod im Licht der Lehren der griechischen Stoa, und deren gesunde und entspannte Haltung gegenüber dem Tod war begründet in ihrer Doktrin der ewigen Wiederkehr, welche lehrte, dass das Universum, aber auch der Mensch ständig geboren, aufgelöst und wiedergeboren wird. Im erleuchten Verständnis dieser Lehre, welche wir in ähnlicher Form auch im Hinduismus und Buddhismus finden, ist der Tod nur Übergang in ein anderes Leben; und das Einzige, was wirklich zu fürchten ist, sind die Folgen eines unheilsamen Denkens und Wollens in uns und alle Handlungen, welche wir von den Geistesgiften motiviert ausführen, die, zu schlechten Gewohnheiten werdend, die Macht haben, uns weiter an den Daseinskreislauf zu binden. Sie werden uns weiter Leiden verursachen, wenn wir uns nicht davon befreien und diesen Circulus vitiosus in diesem Leben und Körper noch zu unterbrechen lernen.
Wenn wir die uns gegebene Freizeit und Ruhezeit ab jetzt weniger für unnötige Unterhaltungen, Gedanken und Tätigkeiten verschwenden, sondern für die Geistesschulung nutzen, so können wir unserem Geist eine entschieden heilsame Richtung geben und uns in der Dzogchen-Meditation des von allen Konzepten freien, gelassenen Ruhens in der Natur des Geistes üben. Diese Übung ist völlig unkompliziert, weil es eigentlich dabei nichts zu tun gibt, aber den meisten Menschen, die an ständiges Tätigsein gewöhnt sind, fällt genau das heutzutage am schwersten. Aus diesem Grund ist es vorteilhaft, sich zuerst in der Sammlung des Geistes auf ein einziges Objekt, zum Beispiel auf das A, zu üben. Ruhen wir unabgelenkt im A, so fällt auch dieser Gedanke weg, und wir ruhen im ungeborenen Zustand des Geistes. Wir können am Anfang unserer Meditationssitzungen für einige lange Ausatmungen den Ton A singen. Alle Konzepte lösen sich dabei auf und Körper und Geist entspannen sich. Dann ruhen wir einfach, den Blick vor uns auf den leeren Raum gerichtet im natürlichen Zustand – ohne etwas von dem, was spontan aufsteigt oder erscheint, festzuhalten oder abzuweisen. Das ist alles. Das ist die grundlegende Einübung völliger Gelassenheit und damit völliger geistiger Freiheit.
Wenn wir bemerken, dass wir abgelenkt sind, also beginnen, Gedanken oder Erscheinungen zu folgen, tönen wir wieder das A und kehren direkt wieder zum ursprünglichen Zustand offenen, formlosen Erkennens zurück. Wenn wir frei von allen anderen Gedanken, nur auf das A gesammelt am Abend einschlafen, so werden wir immer mehr im Traumzustand luzide Phasen, also Klarträume erleben. So wird es im Dzogchen gelehrt.
Wenn es uns gelingt, vollkommene geistige Stabilität im natürlichen Zustand und damit nach und nach eine alle Bewusstseinsschichten durchdringende Luzidität zu erlangen, so werden wir im Tod zur Buddhaschaft erwachen können. Von den Menschen, die wirklich praktiziert haben, von den Seligen, Heiligen und Verwirklichten aller spirituellen Traditionen wird berichtet, dass sie in der Todesstunde voll Freude, Frieden