Eine zentrale Frage ist, wie der gefundene Anstieg von Gewaltübergriffen mit nachfolgender Dienstunfähigkeit erklärt werden kann. Oft wird auf eine generell zunehmende Respektlosigkeit der Polizei gegenüber in der Bevölkerung, insbesondere aber in der Gruppe der Jugendlichen und Heranwachsenden, verwiesen. Im Widerspruch dazu stehen Untersuchungen, die zeigen konnten, dass sowohl Schüler als auch Erwachsene der Polizei gegenüber mehrheitlich positiv eingestellt sind (vgl. Schülerbefragung: Baier et al., 2010; repräsentative Bevölkerungsbefragung: Baier et al., 2011). Auch die Vermutung einer zunehmenden Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft als Grund für den Anstieg kann vor dem Hintergrund einer Abnahme der Gewaltkriminalität in der PKS seit 2007, die sich zuvor bereits in Dunkelfeldstudien abzeichnete (Baier et al., 2009), nicht aufrechterhalten werden. Ellrich et al. (2011, S. 144) weisen als mögliche Ursache für den Anstieg der Gewalt gegen Polizeibeamte auf zunehmende Polarisierungstendenzen in der Gesellschaft hin. Demnach nimmt die Spaltung der Bevölkerung in einander gegenüber stehende Gruppen zu. Eine solche Polarisierung zeigt sich in verschiedenen Bereichen, so z. B. zwischen einkommensschwachen und einkommensstarken Familien oder zwischen Einheimischen und Migranten. In den letzten Jahren ist zudem eine sich verschärfende Polarisierung hinsichtlich der politischen Orientierung (Links-Rechts) in der Gesellschaft festzustellen. Solche Spaltungstendenzen erklären für sich genommen noch nicht das Phänomen des Anstieges der Gewalt gegen Polizeibeamte. Verbunden mit der zunehmenden Polarisierung ist aber, dass heute häufiger Milieus entstehen, die sich von den Norm- und Wertvorstellungen der gesamtdeutschen Gesellschaft entfremden. Innerhalb dieser Milieus wird vor dem Einsatz von Gewalt gegen Polizeibeamte nicht zurückgeschreckt. Die Gewalthandlungen sind einerseits ein Weg, sich in den Milieus Anerkennung zu verschaffen; sie dienen anderseits aber auch dazu, politischen Ideen Nachdruck zu verleihen, wie dies bspw. für linksextreme Gruppierungen gilt. Die Verfassungsschutzberichte der letzten Jahre weisen in Übereinstimmung damit ansteigende Gewaltaktivitäten linksextremer Gruppierungen, insbesondere Polizeibeamten gegenüber, aus (BMI, 2011). Obwohl diese Überlegungen zur Rolle von Polarisierungstendenzen eine plausible Erklärung darstellen könnten, ist bislang der empirische Beleg für deren Gültigkeit noch nicht erbracht. Andere Erklärungsansätze sind daher ebenso in Betracht zu ziehen (z. B. eine zunehmende außenorientierte Freizeitgestaltung von Jugendlichen und Heranwachsenden).
3.4 Durch welche Merkmale sind die Täter, die den Angriff ausgeübt haben, gekennzeichnet?
Im Rahmen der Befragung wurden die von einem Übergriff mit Dienstunfähigkeit betroffenen Beamten gebeten, einen ausgewählten Übergriff, der zwischen 2005 und 2009 erfolgte, ausführlicher zu beschreiben.8 Somit liegen detaillierte Angaben zu 2.603 Fällen vor, die nicht nur Aussagen zu den Tätern, sondern auch zu den situativen Umständen und Folgen des Übergriffs erlauben.
In Bezug auf die Täter der Gewaltübergriffe mit Dienstunfähigkeit lässt sich dabei Folgendes festhalten (vgl. Ellrich et al., 2010a, S. 16 ff.; Ellrich et al., 2011, S. 10 ff.):
• Knapp drei von vier Übergriffen erfolgten durch einen Einzeltäter (74,8 %).
• Die Angreifer waren fast ausschließlich männlich (92,9 %).
• Jüngere Personen sind unter den Angreifern im Vergleich zu ihrem Anteil in der deutschen Gesamtbevölkerung überrepräsentiert. Insgesamt 59,3 % der Täter waren zum Zeitpunkt des Übergriffs unter 25 Jahre alt.
• In sechs von zehn Fällen (59,4 %) wurden die Täter von den Beamten als deutsch eingestuft, 36,1 % wiesen eine nichtdeutsche Herkunft auf, wobei hier am häufigsten Länder der ehemaligen Sowjetunion (z. B. Russland, Kasachstan) bzw. die Türkei oder andere islamische Länder (z. B. Iran, Irak) genannt wurden. Bei einigen wenigen Personen (4,5 %) war die Herkunft unbekannt.9 Der Anteil nichtdeutscher Täter liegt zudem bei Übergriffen in großstädtischen Gebieten deutlich höher als in ländlichen Bereichen.
• In fast drei Viertel aller Fälle standen die Täter zum Zeitpunkt des Übergriffs unter dem Einfluss von Alkohol (71,7 %). Sie befanden sich also mehrheitlich in einem Zustand der Enthemmung und verringerter Selbstkontrolle, wenn sie der Polizei entgegen traten. Dabei ist eine Zunahme des Anteils alkoholisierter Täter über die letzten fünf Jahre hinweg festzustellen.
• Bei zwei von drei Übergriffen (64,8 %) handelte es sich zudem um Personen, die zuvor schon einmal polizeilich in irgendeiner Form in Erscheinung getreten waren.
• Die Täter setzten hauptsächlich körperliche Gewalt in Form von Rangeln, Schlägen oder Tritten gegen die Beamten ein (84,0 %). Der Einsatz von Waffen oder anderen gefährlichen Gegenständen (z. B. Zaunlatten) wurde bei jedem fünften Übergriff berichtet (19,3 %), wobei diese Art des Übergriffs im Rahmen von Demonstrationen überrepräsentiert ist. Angriffe unter Verwendung eines Autos oder anderer Vehikel stellen die Ausnahme dar (3,0 %).
Dass die Täter mehrheitlich allein handelnd, männlich, jung, alkoholisiert und polizeibekannt sind, bestätigt sich auch in anderen in- wie ausländischen Untersuchungen (vgl. z. B. Brown, 1994; Falk, 2000; FBI, 2010; Griffiths & McDaniel, 1993; Ohlemacher et al., 2003). Allerdings kann auf Basis dieser Beschreibung keine Aussage darüber getroffen werden, bei welchen Tätern ein höheres Risiko für den Beamten besteht, angegriffen zu werden. Da Polizisten häufig mit alkoholisierten Personen konfrontiert sind, ist es nicht weiter überraschend, dass diese auch zu einem hohen Anteil zu den Angreifern gehören. Ob sie ein höheres Risiko für Beamte darstellen als nicht alkoholisierte Personen, lässt sich damit noch nicht sagen. Dies sei an einem Beispiel verdeutlicht: Wenn fünf von 100 Einsätzen mit alkoholisierten Bürgern zu einem Angriff mit Dienstunfähigkeit führen, gleiches aber auch für fünf von 100 Einsätzen mit nicht alkoholisierten Bürgern gilt, ist das Risiko für einen Angriff bei beiden Tätergruppen jeweils 5 %. Angenommen, dass Einsätze mit alkoholisierten Personen aber dreimal häufiger vorkommen als Einsätze mit nicht alkoholisierten Personen, dann werden innerhalb eines bestimmten Zeitraums 15 Beamte durch alkoholisierte Täter verletzt, aber nur 5 Beamte durch nicht alkoholisierte Täter (d. h. bei 75,0 % der Übergriffe war der Täter alkoholisiert). Um eine echte Risikoabschätzung durchführen zu können, ist es notwendig, Einsätze, die in einer Gewalterfahrung resultierten mit denen zu vergleichen, die friedlich verlaufen sind. Nur wenige Studien haben sich bislang um solche Analysen bemüht (vgl. Johnson, 2011). Im Rahmen eines zusätzlichen Fragebogenmoduls, in dem es um den letzten Einsatz bei häuslicher Gewalt ging, sollte deshalb der Frage nachgegangen werden, welche Faktoren das Risiko von Beamten erhöhen können, im Einsatz verletzt zu werden (näheres s. Ellrich et al., 2011, S. 34 ff.). Neben der Zusammensetzung des Einsatzteams wurde auch danach gefragt, welche Herkunft der Täter hatte, welches Geschlecht und ob er ggf. unter Einfluss von Alkohol stand. Zudem sollten die Beamten angeben, ob sie oder ihre Kollegen bei diesem letzten Einsatz verletzt wurden. Dabei dient die Verletzung eines Beamten im Folgenden als Maß zur Abschätzung der Gefährlichkeit bestimmter Konstellationen. Bei der Analyse wurde sich auf Einsätze, in denen nur zwei Beamte vor Ort waren, beschränkt. Diese stellen zum einen die typische Einsatzsituation bei häuslicher Gewalt dar. Zum anderen sind die Einsätze überschaubarer, so dass der Einfluss bestimmter Faktoren besser abgeschätzt werden kann. Wie sich zeigt, endete etwa jeder siebzehnte Einsatz im Rahmen häuslicher Gewalt mit einer Verletzung mindestens eines Beamten (6,0 %). Welche Merkmale dieses Risiko beeinflussen, dokumentiert Tabelle 2. Dabei werden wiederum Ergebnisse einer logistischen Regressionsanalyse vorgestellt.
Tabelle 2
Einflussfaktoren auf die Verletzung mindestens eines Beamten beim letzten Einsatz im Rahmen häuslicher Gewalt (nur Zweierteams, logistische Regression; abgebildet: Exp(B) | |
Modell I | |
Täter: FrauTäter: MannTäter: andere | Referenz 0.924 2.097 |