1 Einleitung
Polizeibeamte1 sind in ihrem täglichen Dienst mit einer Vielzahl von belastenden und gefährlichen Situationen konfrontiert. Obgleich die meisten Polizei-Bürger-Interaktionen friedlich verlaufen, kommt es auch immer wieder zu kritischen Situationen, in denen Polizeibeamte gewalttätig angegriffen werden. In einer Untersuchung von Klemisch et al. (2005) gaben bspw. 63,6 % der befragten Polizeibeamten an, im Dienst schon einmal körperlich verletzt worden zu sein, 55,4 % waren bereits in Lebensgefahr. Dass solche Ereignisse eine starke Belastung für Polizeibeamte darstellen, konnten verschiedene Studien belegen (Hallenberger & Müller, 2000; Hallenberger et al., 2003; Klemisch et al., 2005a; Neugebauer & Latscha, 2009).
Für Deutschland existieren keine offiziellen Statistiken, die das Ausmaß von Gewaltübergriffen zum Nachteil von Polizeibeamten erfassen. Deshalb wird zur Beschreibung des Phänomens oft auf die registrierten Fälle von Widerstand gegen die Staatsgewalt in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS, Schlüssel: 621000) zurückgegriffen. Dabei zeichnete sich zwischen 2000 und 2008 ein nahezu kontinuierlicher Anstieg von Widerstandsdelikten um rund ein Drittel ab (34,5 %).2 Diese Entwicklung wurde als Indiz für eine steigende Gewaltbereitschaft Polizeibeamten gegenüber gewertet. Auf Basis dieser Statistik eine Aussage über Gewalterfahrungen von Polizeibeamten sowie deren Entwicklung zu treffen, ist aber aus mehreren Gründen problematisch: Erstens bezogen sich Widerstandsdelikte bis zum PKS Berichtsjahr 2008 auf die Staatsgewalt insgesamt (§§ 111, 113, 114, 120, 121 StGB), wodurch eine differenzierte Betrachtung von Fällen, die sich gegen Polizeivollzugsbeamte richteten, nicht möglich war. Im Jahr 2009 wurden dann bereits Widerstandsdelikte gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113) separat ausgewiesen, die sich zumindest größtenteils auf die Berufsgruppe der Polizeibeamten beziehen. Eine weitere Differenzierung erfolgte im Jahr 2010, in der erstmals Polizeivollzugsbeamte als Opfer von Widerstandsdelikten (Schlüssel 621021) ausgewiesen wurden. Zweitens weist die PKS nur das jeweils schwerste Delikt aus. Liegt neben dem Widerstand auch eine Körperverletzung vor, wird nur letztere in der PKS erfasst. Da bei Körperverletzungsdelikten bislang keine gesonderte Ausweisung der viktimisierten Berufsgruppe erfolgte, können Fälle zum Nachteil von Polizeibeamten hierbei nicht identifiziert werden.3 Folglich repräsentieren die registrierten Fälle von Widerstand weniger schwerwiegende Angriffe auf Beamte. Drittens können auf Basis der PKS keine Aussagen darüber getroffen werden, unter welchen situativen Umständen Angriffe gegen Polizeibeamte erfolgen, welche Gruppen von Polizeibeamten besonders stark von Gewalt betroffen sind und welche Konsequenzen aus den Übergriffen resultieren können. Diese Kenntnisse sind aber notwendig, um Polizeibeamte durch Aus- und Fortbildung besser auf gefährliche Situationen vorzubereiten bzw. im Falle eines Übergriffs entsprechende Hilfeleistungen anzubieten.
2 Forschungsfragen
Sowohl in- als auch ausländische Untersuchungen haben sich auf eine präzise phänomenologische Beschreibung typischer Übergriffsituationen zum Nachteil von Polizeibeamten konzentriert (z. B. Bragason, 2006; Brown, 2004; Falk, 2000; FBI, 2010; Jäger, 1988; Ohlemacher et al., 2003).4 In der deutschen Forschung wurde sich dem Thema von unterschiedlichen Perspektiven genähert, wodurch die Vergleichbarkeit der Ergebnisse mitunter eingeschränkt ist. So finden sich neben Untersuchungen zu versuchten/vollendeten Tötungsdelikten an Polizeibeamten (Ohlemacher et al., 2003; Sessar et al., 1980), auch solche, die eine mehrtägige Dienstunfähigkeitsdauer des Beamten infolge eines Angriffs in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen (Jäger, 1988; Jäger, 1991; Ohlemacher et al., 2003). Andere Studien richteten sich wiederum auf Widerstandsdelikte gegen Polizeibeamte (z. B. Falk, 2000), die zwar nicht zwangsläufig mit gewalttätigen Übergriffen bzw. Verletzungen einhergehen müssen, aber dennoch eine konflikthafte Beamten-Bürger-Interaktion darstellen.
Die letzte umfassende Studie zu Gewalt gegen Polizeibeamte wurde im Jahr 2000 vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen durchgeführt (KFN, Ohlemacher et al., 2003). Im Mittelpunkt dieser Untersuchung standen gravierende Gewalttaten zum Nachteil von Polizeibeamten, die durch eine Tötungsabsicht oder eine mindestens siebentägige Dienstunfähigkeit infolge des Gewaltereignisses gekennzeichnet waren. Seitdem beschränkte sich die Informationsbasis zum Ausmaß von Gewalt gegen Polizeibeamte im Dienst auf die registrierten Fälle von Widerstand gegen die Staatsgewalt in der PKS. Um aktuelle Daten zu gewinnen, entschied sich das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) in Kooperation mit zehn Bundesländern5 Anfang 2010, eine neue Befragung zu Gewalt gegen Polizeibeamte durchzuführen. Diese erfolgte online auf Extrapol, einer Informations- und Kommunikationsplattform der Deutschen Polizeien. Insgesamt 20.938 Polizeibeamte haben sich an der Untersuchung beteiligt, was einer Rücklaufquote von 25,1 % entspricht (Ellrich et al., 2010, S. 10). Etwa jeder fünfte Beamte war weiblich. Das Alter der Befragten variierte zwischen 19 bis 62 Jahren und betrug im Mittel 41,3 Jahre. Hinsichtlich der Dienstgruppe kann festgehalten werden, dass die Beamten zum Befragungszeitpunkt am häufigsten dem Einsatz- und Streifendienst angehörten (44,3 %), gefolgt vom Kriminal- und Ermittlungsdienst (23,2 %). Knapp jeder zwölfte Beamte (8,4 %) tat seinen Dienst in besonderen Einsatzeinheiten wie bspw. Hundertschaften (andere Dienstgruppen: 23,9 %). Zudem arbeiteten die Beamten in der Mehrheit der Fälle (72,8 %) in Gebieten, in denen die größte Stadt weniger als 250.000 Einwohner umfasst. Im Vergleich zur gesamten Polizeistärke der zehn beteiligten Bundesländer sind Polizeibeamtinnen, jüngere Beamte sowie Beamte aus westdeutschen Gebieten (darunter Berlin) in der Befragung anteilmäßig überrepräsentiert (Ellrich et al., 2010, S. 14).
Ziel der Untersuchung war es, ein umfassendes Bild zu Gewalterfahrungen von Polizeibeamten im Rahmen ihrer Dienstausübung zu erhalten. In diesem Zusammenhang sollten Erkenntnisse zu den nachfolgenden Fragestellungen gewonnen werden, die zugleich den vorliegenden Beitrag gliedern:
• In welchem Ausmaß sind Polizeibeamte verschiedenen Formen der Gewalt im Rahmen ihrer Dienstausübung ausgesetzt?
• Wie hat sich die Gewalt gegen Polizeibeamte in den Jahren 2005 bis 2009 entwickelt?
• Durch welche Merkmale sind
a) die von Gewalt betroffenen Beamten,
b) die Täter, die den Angriff ausgeübt haben und
c) die Situationen, in denen es zu Gewalt gegen Polizeibeamte gekommen ist, gekennzeichnet?
• Welche Folgen haben Gewaltübergriffe für den betroffenen Beamten?
3 Ergebnisse
3.1 In welchem Ausmaß sind Polizeibeamte verschiedenen Formen der Gewalt im Rahmen ihrer Dienstausübung ausgesetzt?
Gewalt kann ein weites Spektrum unterschiedlicher Formen umfassen. Nicht nur im körperlichen Angriff oder im Einsatz von Waffen spiegelt diese sich wider. Auch Drohungen oder Beleidigungen können als Gewalt definiert werden. Wie oft Polizeibeamte im Jahr 2009 solchen Formen von Gewalt im Dienst ausgesetzt waren, zeigt Abbildung 1.
Insgesamt 80,9 % der Beamten wurden im Rahmen ihrer Dienstausübung beschimpft oder beleidigt, wobei etwa jeder fünfte dies mindestens einmal im Monat erlebte. Etwas niedriger liegen die Raten für Drohungen mit 65,4 %, wobei auch hier die Mehrheit der Befragten dieser Gewaltform selten (einmal/einige Male) ausgesetzt war. Polizeibeamte sind demnach relativ häufig mit verbaler Gewalt konfrontiert. Alle anderen abgebildeten Gewaltformen erleben Beamte im Dienst hingegen deutlich seltener. Dass mit zunehmendem Schweregrad der Gewalt der Anteil an betroffenen Beamten abnimmt, findet sich auch in anderen Untersuchungen (vgl. auch Bosold, 2005; Manzoni, 2003). Etwas mehr als ein Drittel