Abbildung 1
3.2 Durch welche Merkmale sind die von Gewalt betroffenen Beamten gekennzeichnet?
Nachdem dargestellt wurde, in welchem Ausmaß Polizeibeamte von Gewalt im Dienst betroffen sind, soll der Frage nachgegangen werden, ob die Wahrscheinlichkeit angegriffen zu werden, für alle Beamten gleich groß ist, oder ob es bestimmte Faktoren gibt, die das Risiko, Opfer zu werden, beeinflussen. Gerade unter präventiven Gesichtspunkten ist es von Bedeutung zu wissen, ob Merkmale des Beamten mit der Angriffswahrscheinlichkeit in Beziehung stehen. So können nach Schmalzl (2005, S. 10) bspw. Nachlässigkeiten im Auftreten, Fehler bei der Eigensicherung sowie mangelnde Koordination mit dem Streifenpartner als „Gewalt-Beschleuniger“ auf Seiten des Beamten fungieren, die einen Übergriff wahrscheinlicher machen.
Generell kann bei personenbezogenen Faktoren zwischen sichtbaren und nicht sichtbaren Merkmalen unterschieden werden. Zu ersteren gehören bspw. Geschlecht, Körpergröße oder Alter des Beamten, welche für den Bürger unmittelbar erkennbar sind. Die Konfrontation mit einem dienstälteren Beamten bspw. könnte zu anderen Reaktionen auf Seiten des Bürgers führen als bei jungen Beamten. Möglicherweise wird den Anweisungen älterer Polizeibeamter stärker Folge geleistet, weil diesen mehr Kompetenz zugesprochen wird. Dadurch reduziert sich wiederum das Risiko einer Eskalation zwischen Polizei und Bürger. Nicht sichtbare Merkmale manifestieren sich hingegen erst in der Interaktion mit dem Bürger. Faktoren, die hier eine Rolle spielen, sind Einstellungen und Kompetenzen, die Auswirkungen auf das Verhalten des Beamten und somit auch des Bürgers haben. So könnten bspw. Beamte, die sehr risikobereit sind, ihre Eigensicherung stärker vernachlässigen, wodurch sie leichter Ziel eines Angriffs werden. Hingegen tragen bestimmte soziale und kommunikative Kompetenzen möglicherweise zu einer Deeskalation von Situationen bei, und verringern somit das Risiko eines Gewaltübergriffs.
Inwiefern bestimmte Merkmale der Beamten mit der Wahrscheinlichkeit, Opfer von Gewalt zu werden, in Zusammenhang stehen, soll nachfolgend untersucht werden. Da keine Informationen zu Einstellungen und Kompetenzen, also den nicht sichtbaren Merkmalen, der Beamten zur Verfügung stehen, beschränken sich die Analysen auf sichtbare Faktoren. Hier liegen die üblichen demografischen Angaben zu Geschlecht, Alter, Größe, Gewicht und Herkunft des Beamten vor. Als Opfer von Gewalt werden all jene Beamte betrachtet, die im Jahr 2009 mindestens einmal körperlich angegriffen wurden (schubsen, festhalten, schlagen, treten). Dies trifft knapp auf die Hälfte aller Befragten (50,7 %) zu. Die Auswahl erfolgte aus zwei Gründen: Erstens werden diese Formen von Gewalt verglichen mit dem Einsatz von Gegenständen/Waffen relativ häufig erlebt. Zweitens wird die physische Integrität der Beamten durch solche Gewalterfahrungen beschädigt, so dass es sich um folgenreiche Angriffe handelt. Um festzustellen, welche Faktoren das Viktimisierungsrisiko beeinflussen, wurde auf die Methode der logistischen Regression zurückgegriffen. Diese Form der Analyse erlaubt es, den Einfluss einer Variablen (z. B. Geschlecht) unter Berücksichtigung des Einflusses anderer Merkmale (z. B. Alter) festzustellen. Wie aus Tabelle 1 ersichtlich, wurden dabei zwei Modelle berechnet. Das erste konzentriert sich ausschließlich auf die genannten persönlichen Merkmale des Beamten, während der zusätzliche Einfluss von tätigkeitsbezogenen Faktoren (Dienstart, Tätigkeitsgebiet) im zweiten Modell berücksichtigt wird. Diese Faktoren beschreiben den Arbeitsalltag der Beamten und determinieren somit zu einem gewissen Teil, welchen Situationen die Beamten in ihrem Dienst üblicherweise ausgesetzt sind. Zur Interpretation des Einflusses der einzelnen Variablen wird auf den Exponentialkoeffizienten B (Exp(B)) als Kennwert verwiesen. Erreicht dieser Werte über 1, ist von einer das Verletzungsrisiko erhöhenden Wirkung des jeweiligen Faktors auszugehen. Werte unter 1 sprechen hingegen für einen risikomindernden Einfluss.
Tabelle 1
Beamtenbezogene Einflussfaktoren auf einen körperlichen Angriff 2009 (logistische Regression; abgebildet: Exp(B)) | ||
Modell 1 | Modell 2 | |
Geschlecht: männlich | 1.826*** | 1.655*** |
Alter: unter 30 Jahre Alter: 30 bis unter 50 Jahre Alter: ab 50 Jahre | Referenz 0.408*** 0.156*** | Referenz 0 583*** 0.300*** |
Größe: klein (unter 176 cm) Größe: mittel (176 bis unter 183 cm) Größe: groß (ab 183 cm) | Referenz 1.098* 1.145* | Referenz 1.109* 1.177** |
Gewicht: leicht (unter 78 kg) Gewicht: mittel (78 kg bis unter 91 kg) Gewicht: schwer (ab 91 kg) | Referenz 0.959 0.955 | Referenz 0.943 0.904 |
Migrationshintergrund | 1.280* | 1.313* |
Dienstgruppe: andere Dienstgruppe: besondere Einsatzeinheit Dienstgruppe: Einsatz- und Streifendienst (inkl. Fußstreife) | Referenz 6 460*** 5.247*** | |
Einsatzgebiet: ländlich/städtisch (unter 250.000 Einwohner) Einsatzgebiet: mittelstädtisch/großstädtisch (ab 250.000 Einwohner) | Referenz 0.929 | |
N Nagelkerkers R2 | 18.101 .085 | 18.101 .243 |
*** p < .001, ** p < .01, * p < .05
Männliche Beamte weisen ein signifikant höheres Risiko auf, körperlich attackiert zu werden, verglichen mit ihren Kolleginnen. So wurden 52,1 % aller männlichen Beamten im Jahr 2009 mindestens einmal körperlich angegriffen, Beamtinnen hingegen nur zu 45,2 %. Weiterhin lässt sich ein Effekt des Alters auf die Wahrscheinlichkeit, Gewalt zu erleben, festhalten. Während etwa zwei Drittel aller unter 30jährigen Beamten (69,6 %) Opfer eines Angriffs im Dienst wurden, trifft dies nur auf rund ein Drittel aller über 50jährigen Beamten zu (31,8 %; Beamte zwischen 30 und unter 50 Jahren: 52,4 %). Außerdem gibt es Hinweise darauf, dass die Körpergröße des Beamten einen risikoerhöhenden Effekt hat, wohingegen das Gewicht nicht mit dem Viktimisierungsrisiko in Zusammenhang steht. Weisen die Beamte einen Migrationshintergrund auf, d. h. dass mindestens ein leibliches Elternteil nicht deutscher Herkunft ist, finden sich ebenfalls etwas höhere Viktimisierungsraten verglichen mit deutschen Beamten ohne Migrationshintergrund. Wie das zweite Modell zeigt, spielt neben den genannten personalen Faktoren auch die Dienstgruppenzugehörigkeit eine bedeutsame Rolle. Einsatz- und Streifendienstbeamte haben ein mehr als fünffach (69,6 %), Beamte besonderer Einsatzeinheiten sogar ein über sechsfach (73,3 %) höheres Risiko, körperlich angegriffen zu werden, verglichen mit anderen Dienstgruppen (z. B. Kriminal- und Ermittlungsdienst: 22,3 %). Hingegen hat die Größe des Tätigkeitsgebietes, gemessen an der Anzahl der Einwohner, den Analysen zufolge keinen Einfluss auf das Risiko einer Opferwerdung.
Als ein Maß zur Bestimmung der Güte der Vorhersage des Viktimisierungsrisikos anhand der im Modell berücksichtigten Variablen, kann der Anteil an aufgeklärter Varianz (hier: Nagelkerkers R2) betrachtet werden. Wie deutlich wird, klären ausschließlich demografische Merkmale mit 8,5 % nur einen Teil der Varianz auf (Modell I). Der Anteil steigt um fast das Dreifache an (24,7 %), wenn zusätzlich die Dienstgruppenzugehörigkeit berücksichtigt wird. Folglich scheinen personenbezogene Merkmale einen geringen Einfluss auf das Risiko, körperlich angegriffen zu werden, zu haben. Bedeutsamer sind strukturelle Faktoren wie die Dienstgruppe und die damit in Zusammenhang stehenden Aufgabengebiete. Dass Beamte aus dem Einsatz- und Streifendienst häufig Opfer von Gewalt werden, bestätigt sich auch in früheren Untersuchungen (z. B. Falk, 2000; Griffiths & McDaniel, 1993; Manzoni, 2003). Da sie tagtäglich mit emotional aufgewühlten, betrunkenen, aggressiven und hilflosen Bürgern interagieren, ist ein erhöhtes Risiko für einen Angriff nicht überraschend. Gleiches