Geschwisterbeziehungen. Ingo F. Schneider. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ingo F. Schneider
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783991072652
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dabei viel weniger als das erste Kind davon bestimmt, was die Eltern damit machen.

      Der Mensch mit seinen sozialen Strukturen ist Teil der Schöpfung und gleichsam nur ein besonders interessantes Objekt der Natur. So begegnet das zweite Kind den Menschen, wie es allen Objekten begegnet. Es geht auf sie zu, berührt sie, streichelt sie. Dies erklärt auch seinen sinnlichen Bezug und leichten Kontakt zu den Menschen.

      ***

      Zusammenfassung:

      So wie sich das erste Kind seinem Partner, den Menschen über Blick und Wort nähert, so erforscht das zweite Kind sein Objektumfeld über die sinnliche Berührung, sein Fühlen und seinen Drang, diese Objekte umzuwandeln. Es entwickelt so seine sinnlich-schöpferische Antriebskraft und fühlt sich im Machen wohl.

      ***

      Die polare Beziehungsdynamik der ersten beiden Kinder:

      Diese grundsätzlich verschiedenen Ausgangssituationen zwischen den beiden älteren Kindern bilden den Ursprung für die sich gegenseitig ergänzende Gegensätzlichkeit, die sich in allen ihren Äusserungsformen zeigt.

Das erste KindDas zweite Kind
Beobachtet die Eltern und entwickelt vor allem den Sehsinn.Will die Dinge fühlen und entwickelt vor allem den Berührungssinn.
Das Sehen regt das Denken an:Es vergleicht, wägt ab, beurteilt.Das Berühren regt die Muskeltätigkeit an:Das Kind macht mit den Dingen.
Denkende WahrnehmungFühlende Wahrnehmung
KopfBauch

      Ein drittes Kind ist geboren worden.

      Es sieht vier Gesichter. Zwei gehören dem Elternpaar, die zwei anderen dem älteren Kinderpaar.

      Das Elternpaar ruht auf der komplementären Gegensätzlichkeit des Geschlechtes, das Paar der zwei älteren Kinder auf der komplementären Gegensätzlichkeit ihrer Geschwisterrollen. Beide Paare sind gewohnt, ihre Gegensätzlichkeit im Alltag ständig wieder zu leben: Sie spielen und streiten zusammen.

      Die Plätze sind in dieser „Paarumgebung“ besetzt.

      Erwachsene Drittgeborene machen oft Bemerkungen, die auf eine eigene Empfindungsart von Zugehörigkeit und Ausgeschlossensein schliessen lässt: «Ich gehörte dazu und gehörte doch nicht dazu …», oder: «Ich hatte das Gefühl, adoptiert zu sein; mir war die Familie wie fremd …».

      Die beiden älteren Kinder haben inzwischen zu zweit ihre Kinderwelt aufgebaut und sind fixiert in der Polarität ihrer Beziehung. Sie werden kleine elterliche Aufgaben übernehmen, werden das dritte Kind mit Interesse und Neugier betrachten, aber kaum auf die Idee kommen, das «süsse Kleine» in die polare Dynamik ihrer gewachsenen Zweierbeziehung einzubeziehen.

      Erst- und zweitgeborene Erwachsene drücken sich gelegentlich über den Drittgeborenen aus: «Er ist anders als wir». Dabei ist interessant, dass sie von «wir» sprechen, gerade sie beide, die so gegensätzlich sind. Sie empfinden also ihre Polarität als eine Ganzheit, in welcher jeder seine eigene Identität im Spiegel seines Gegenübers findet; die Andersartigkeit des Drittgeborenen bedeutet, dass sie ihn als ausserhalb ihrer Polarität empfinden.

      Was die konkreten Äusserungsformen betrifft, übernimmt das dritte Kind Verhaltensmuster von beiden Älteren. Diese Tendenz kann dann von den beiden anderen als Öffnung und Erweiterung in ihrer Identitätsfindung aufgenommen werden. Erwachsene sagen etwa von ihrem dritten Geschwister: «Bei ihm suchen wir Rat, wenn wir in Schwierigkeiten sind», oder sie wird als Bedrohung aufgenommen und als Andersartigkeit abgedrängt.

      Von den gegensätzlichen Charakteristiken der ersten beiden Kinder wählt das dritte Kind meistens nur die eine oder die andere; es gibt nur ausnahmsweise eine dritte Möglichkeit. Aber es kann von einem gegensätzlichen Charakteristikpaar die Möglichkeit des ersten Kindes, von einem anderen diejenige des zweiten Kindes wählen. Dies führt zu einer häufig angetroffenen, scheinbaren Widersprüchlichkeit zwischen einzelnen Ausdrucksformen des dritten Kindes.

      Wir finden also bei dritten Kindern in ihren konkreten Ausdrucksformen eine viel grössere individuelle Verschiedenheit als für die beiden anderen und man kann weniger über eine aufzählende Beschreibung aus der vergleichenden Befragung zu einem bildhaften Gesamteindruck kommen. Wir müssen gleichsam die Ebene wechseln und wir erfahren über das Funktionieren von Drittgeborenen viel mehr von Erwachsenen als von Müttern über ihre dritten Kinder. So kommen von erwachsenen Drittgeborenen immer wieder Äusserungen, die auf eine Auseinandersetzung um das Existentielle des Lebens schliessen lassen:

       Eine drittgeborene Patientin erklärte mir, dass sie oft an eine nahe gelegene Böschung einer Autobahn gehe, um die vorbeirasenden Fahrzeuge zu betrachten. Ein drittgeborener Mann erzählte mir, dass er wiederholt die Kriegsgräber im Nord-Osten Frankreichs besuchte. Es wurde die Faszination beschrieben, zu beobachten, «zu was der Mensch fähig sei».

       Zur Sensibilität höre ich gelegentlich Äusserungen wie: «Damit ich die Ereignisse wahrnehmen kann, müssen sie mich durchdringen. Wenn es mir schlecht geht, durchdringen sie mich auch, sonst würde ich sie nicht wahrnehmen können, aber sie erschüttern mich in meinem Innersten». Dies steht im Gegensatz zum Erstgeborenen, der eher einen Schutzwall um sich aufbauen würde, um sich nur ja nicht durchdringen zu lassen, und zum Zweitgeborenen, der eher weggehen und eine Beschäftigung suchen würde, um sich vom unangenehmen Ereignis abzulenken.

       Zeit und Raum scheint von Drittgeborenen in anderer Weise als von den beiden Älteren wahrgenommen zu werden. So kommt es immer wieder vor, dass Patienten mir beschreiben, wie gehetzt sie sich fühlen, wenn sie einem Zeitprogramm folgen müssen, bei dem sich eine Arbeit an die andere reiht.

      Wie können wir, um die Funktionsart des dritten Kindes zu verstehen, die Ebene wechseln? Dazu ist es sinnvoll, bei den beiden älteren Kindern zu beginnen und zu überlegen, welche Gesetze ihrer alltäglichen polaren Dynamik beim dritten Kind zur Wirkung kommen.

      Diese Dreigliedrigkeit der Polarität ist die Grundlage der Dreierfolge in den Geschwisterstellungen. Die ersten beiden Kinder leben in einer polaren Dynamik: Sie spielen und streiten miteinander und erleben tagtäglich das Anderssein des anderen. In ihrer Beziehungsdynamik erfahren sie ständig, wie sich ihre Gegensätzlichkeiten ergänzen oder aufeinanderprallen. Dauernd wechseln sie zwischen Bewunderung und Verachtung, zwischen Neugier und Gleichgültigkeit, zwischen Sympathie und Antipathie. Bei jedem Wechsel zwischen diesen Polen machen sie Erfahrungen, hinter denen die Gesetzmässigkeit des dritten Aspektes polarer Zyklen zu erkennen ist. Erst die Erfahrung schreibt sich in die Zeitachse ein; ein identischer Zyklusdurchgang ist nie mehr möglich.

      So kommt es, dass eine Geschwisterschaft von nur zwei Kindern dauernd das Doppelgesicht ihrer Polarität erlebt und diese über die Erfahrung im dritten Aspekt der Polarität entwickelt, auch ohne die Gegenwart eines dritten Kindes. Bei der Ankunft des dritten Kindes ist dieser dritte Aspekt der Polarität also bereits als Platzhalter vorgegeben. Das dritte Kind hätte dann keine andere Wahl, als diesen Platz einzunehmen und in dieser Rolle seine geschwisterliche Identität zu finden.

      Was