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Geschwisterthemen beschäftigten schon seit jeher die Menschheit. Es gibt zahlreiche Legenden über Brüder und Schwestern, die wir aus Sagen und Märchen, aus der Bibel und der Mythologie kennen: Kain und Abel, Esau und Jakob, Kastor und Pollux, Romulus und Remus, Hänsel und Gretel und viele andere. Alle diese Figuren zeigen Rollenverhalten von Geschwistern in all ihren Auseinandersetzungen, mit ihren Stärken und ihren Schwächen.
In verschiedenen Kulturen war es zu gewissen Zeiten üblich, dass der erste Sohn den väterlichen Besitz erbte, der zweite Sohn in Kriegsdienst ging und der dritte Sohn Pfarrer, Mönch oder Lehrer wurde. Wir erkennen in dieser Grundidee eine deutliche Analogie zu den in diesem Buch beschriebenen Typologien des ersten, zweiten und dritten Kindes: das erste Kind als der Erhalter und Fortführer der elterlichen Tradition, das zweite Kind als Abenteurer und Entdecker fremder Welten und das dritte Kind als Sinnsucher der menschlichen Existenz. Diese ursprünglich sinnvolle Unterscheidung stiess sich allerdings an der Tatsache, dass die Mädchen in dieser Aufstellung ausgeschlossen waren, was unter den Söhnen Verschiebungen bewirkte, welche nicht mehr dem obigen Grundmuster entsprachen.
Auch in Filmen und in der Literatur treffen wir immer wieder Themen über Brüder und Schwestern an: Thomas Manns «Buddenbrooks», Dostojewskijs «Die Brüder Karamasow», Theodor Storms «Zur Chronik von Grieshuus», Franz Werfels «Die Geschwister von Neapel». Ich will hier auch «Narziss und Goldmund» von Hermann Hesse erwähnen, obwohl es sich hier nicht um leibliche Brüder handelt, aber Hesse beschreibt die beiden Protagonisten in ihrer Gegensätzlichkeit so tiefgründig, dass wir in ihnen deutlich einen Erstgeborenen und einen Zweitgeborenen erkennen. In der moderneren Literatur finden wir unter anderen «The Correction» von Jonathan Franzen, oder «Moon» von Tony Hillerman, unter den Filmen «Billy Elliot» von Stephen Daldry, «Gladiator» von Ridley Scott, «Interiors» von Woody Allen, «Kirschblüten-Hanami» von Doris Dörrie oder «Farinelli» von Gérard Corbiau.
Alle diese Darstellungen von Geschwistern in ihrem Zusammenwirken lassen uns eine Vielfalt von Beziehungsmöglichkeiten entdecken. So treffen wir zwei Brüder, zwei Schwestern, den älteren Bruder und seine jüngere Schwester, die ältere Schwester und ihren jüngeren Bruder, die drei Schwestern, die zwei Brüder mit der jüngeren Schwester und so fort. Dabei ergibt sich das Grundgerüst der Familienambiance immer aus der Zusammensetzung von Geschlecht und Geburtenrang und wir sehen ähnliche, sich wiederholende Typologien und Bilder des Mädchens, des Knaben, des Mannes, der Frau, aber auch des ersten Kindes, des zweiten Kindes und des dritten Kindes. Die Ähnlichkeit, ja Gleichförmigkeit, mit der die Letzteren immer wieder beschrieben werden, lässt auf ein diffuses Wissen der Autoren über typische Ausdrucksformen der Geburtenränge schliessen. Die einzelnen Bilder der Geschwisterrollen erhalten so eine archetypische Bedeutung.
Bei diesen stetigen Wiederholungen in der Darstellung der einzelnen Geschwisterrollen ist es daher um so erstaunlicher, dass bisher nicht mehr Versuche unternommen wurden, die einzelnen Typologien der Geschwister nach ihrem Geburtenrang zu systematisieren. Dies mag damit zusammenhängen, dass es bis Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts viele sehr kinderreiche Familien gab. Bei einem «Haufen» von sechs, acht oder über zehn Kindern sind spezifische Rollenverhalten der einzelnen Kinder weniger augenfällig als bei den heute üblichen Kleinfamilien mit zwei bis drei Kindern. Zum anderen war damals die Kindersterblichkeit sehr hoch, was dazu führte, dass die geschwisterlichen Rollenverhalten beim Tod eines der Kinder teilweise verschoben und eine anfangs klare Rollenverteilung verwischt wurde.
Ziel dieses Buches ist, den Leser mit den verschiedenen Geschwisterrollen vertraut zu machen. Es werden auch Arbeitsmethoden und Modelle vorgestellt, welche die Dynamik zwischen den Geschwistern, die zu den charakteristischen Äusserungsformen der Geschwisterrollen führen, aufzeigen.
Ingo F. Schneider
I Erfahrungen und Beobachtungen
Meine Forschungsergebnisse ruhen zum einen auf eigenen Erfahrungen als fünftes von fünf Kindern.
Zum anderen wurde ich mit 40 Jahren Vater, mit meiner Partnerin, die die Älteste von zehn Kindern ist. Wir hatten also beide die Dynamik von Grossfamilien erlebt und erzogen unsere zwei Kinder mit dieser Erfahrung. Eine Grunderfahrung war dabei, dass alle Fragen und Sorgen, welche die Erziehung unserer Kinder mit sich brachten, durch meine hauptsächlich kinderärztliche Tätigkeit regelmässig aus unserem persönlichen, individuellen Rahmen heraus einen grösseren, allgemeinen Zusammenhang fanden. So erkannte ich immer mehr, dass viele unserer elterlichen Beobachtungen Elemente allgemeiner Gesetzmässigkeiten sind.
Dazu kamen Vergleiche meiner Erfahrungen und Feststellungen mit dem Wissen und den Erfahrungen anderer Medizinformen, wie Akupunktur, Homöopathie, Schamanismus, Ayurveda, der anthroposophisch orientierten Medizin, die alle mit grundsätzlich anderen Menschenbildern arbeiten als die moderne, einzig an der Naturwissenschaft orientierten Medizin.
Eine wesentliche Hilfe für meine Arbeit über die Geschwisterstellungen war meine praktische Tätigkeit als Homöopath. In der Homöopathie arbeiten wir nicht mit den Diagnosen der naturwissenschaftlich orientierten Medizin, welche Fehlfunktionen beschreiben. Die Arzneimittelwahl ruht vielmehr auf der allgemeinen Funktionsart des Patienten. Diese drückt typologische Merkmale ohne Wertung aus, sie unterscheidet nicht zwischen normal und abnormal, gut oder schlecht, sondern sie beschreibt, wie der eine oder andere Organismus in seinem Umfeld empfindet, denkt, handelt und reagiert. Auch die Geschwisterrollen können nicht über Diagnosen von Krankheiten typologisiert werden. Sie unterscheiden sich durch verschiedene Rollenübernahmen, durch verschiedene Funktionsweisen.
Umgekehrt beeinflusste die Kenntnis um die Geschwisterrollen auch meine homöopathische Tätigkeit. Ich entdeckte, dass einige homöopathische Heilmittel in spezifischer Art nur bei gewissen Geschwisterrollen wirksam sind. Seither erweitere ich diese Gruppen der für die Geschwisterrollen spezifisch wirkenden Heilmittel aus dem homöopathischen Arzneimittelschatz.
Meine Arbeit wird bestimmt durch die Rolle, die ich als Familienarzt in einer ländlichen Gegend habe. Es ist klar, dass sich die Rollen von Vater und Mutter in der Kleinfamilie der Industriegesellschaft bedeutend geändert haben, und es kommt immer häufiger vor, dass sich der Vater um die Kinder kümmert und die Mutter arbeitet. Doch waren in meiner Praxistätigkeit die Mütter zum überwiegenden Teil meine Gesprächspartner. Ausserdem kommt selbst in der modernen Familie das Kind von der Mutter und «entdeckt» den Vater. Die Schwangerschaft mit ihren hormonellen Veränderungen, Geburt und Stillzeit haben aus der Frau bereits eine Mutter gemacht, während der Ehemann erst nach der Geburt lernen kann, Vater zu werden. Ich behalte deshalb in diesem Text das klassische Bild der elterlichen Rollen bei.
II Woher diese Unterschiede kommen: Die Prägung
Es ist heute allgemein üblich, die Verschiedenheit unter den Geschwistern mit dem Unterschied im elterlichen Verhalten gegenüber den Kindern oder mit psychischen Mechanismen wie der oft zitierten Entthronung1 des ersten Kindes durch die späteren, zu erklären. Oberflächlich betrachtet ist diese Betrachtungsart verständlich, da die Ankunft des ersten Kindes für die Eltern tatsächlich eine radikale Änderung ihres Alltagslebens, ihrer Beziehung zueinander und auch ihres sozialen Lebens mit sich bringt. Die folgenden Kinder finden dann Eltern vor, die ihre neue soziale Rolle bereits aufgenommen und erzieherische Erfahrung hinter sich haben.
Diese Betrachtungsweise könnte den Unterschied zwischen dem ersten und den jüngeren Kindern erklären, aber nicht die Tatsache, dass es auch unter diesen jüngeren Geschwistern markante Unterschiede gibt. Ich machte zahlreiche vergleichende Befragungen2, bei denen die verschiedenen Ausdrucksformen unter allen Geschwistern des gleichen familiären Haushaltes im vergleichenden