Österreichs Fußballidol Hans Krankl bezeichnete Andi Herzog während dessen ersten Jahren bei Rapid einmal als den „weißen Gullit“ und meinte: „Seine Klasse ist außergewöhnlich. Er könnte ein Großer des europäischen Fußballs werden, wenn er von Verletzungen verschont bleibt.“
KAPITEL 9:
„LASS PFEIFEN, DIE TROTTLN!“ – OFFENSIV STATT TIKI TAKA
RAPID WIEN 1988–1992
Es stellt sich die Frage, was den Unterschied ausmacht, zwischen einem gestandenen Profi und einem, der das Zeug dazu hat, eine ganze Nation zu bewegen – und das im Idealfall über einen langen Zeitraum hinweg. Liegt es am Trainingsfleiß oder der Charakterstärke oder schlichtweg am einzigartigen Talent? Ist es Erfahrungswissen, gepaart mit einer besonderen Form von Resilienz und Mentalität? Biss und Ehrgeiz haben alle Profisportler, doch nur wenige können den Unterschied ausmachen, wenn es wirklich darauf ankommt. Natürlich ist das immer auch eine Sache der Position – und ein kreativer Mittelfeldspieler oder Stürmer hat andere Möglichkeiten als ein Kicker der Defensive. Diese spielen auf hohem Niveau solide mit, sichern ab, machen ihren Job und wachsen je nach Spielsituation auch über sich hinaus, sorgen jedoch seltener bis nie für das Momentum – durch eine einzigartige Berührung, einen Pass, ein Zuspiel oder eine Zauberei, um dem Spiel die entscheidende Wendung zu geben. Dafür sind nur wenige Spieler geschaffen – und sie bleiben in der Erinnerung haften.
In der modernen Trainersprache spricht man hier vom Unterschiedspieler. Andi Herzogs linkes Pratzerl hatten wir in diesem Zusammenhang schon erwähnt – ein wunderbares Alleinstellungsmerkmal und immer gut für den entscheidenden Pass oder das Tor.
Doch da gab es noch etwas: Es war die Mathematik, genauer gesagt die Geometrie oder die Kunst, das Spiel lesen und kreativ verändern zu können. Natürlich, Herzog ging in keine Key School, dennoch wäre an dieser Stelle ein Interview mit seiner früheren Volksschullehrerin hochinteressant, sowie die Frage, wie häufig er dort – mathematisch oder besser gesagt geometrisch gesehen – in den Flow-Zustand kam, also so vertieft in strategisches und räumliches Denken abtauchte, dass er alles um sich herum vergaß.
Ein bewegendes Beispiel, wie der junge Herzog sein kreatives, mathematisches und vorausschauendes Denken in Pässen, Lupfern und Übersteigern bis hin zur Unberechenbarkeit immer auf den Platz bringen wollte, schildert die Begegnung mit Franz Hasil am Rande eines Rapid-Spiels. Kreativ-Fachleute unter sich – nicht immer verständlich für den passiven Zuschauer, und schon gar nicht für den Laien. Aber 100 Prozent Herz mit großem Lerneffekt.
Franz Hasil, kennst du den? Der war bei Feyenoord Rotterdam mit dem Ernst Happel, da war Feyenoord die weltbeste Mannschaft. Dann hat ihn Rapid dazugeholt, als dritten oder vierten Co-Trainer, ein bissl als Dankeschön für frühere Leistungen. Der war mit auf Trainingslager. (Andreas Herzog)
In der Tat galt der gebürtige Wiener Franz Hasil als einer der besten Spieler Österreichs, der in den 60er-Jahren zunächst für Rapid kickte, dann für ein Jahr in den Kohlenpott zu Schalke 04 wechselte, um in den folgenden Jahren seine großen Erfolge in den Niederlanden unter Ernst Happel zu feiern. Sein Mitspieler Alois Jagodic, Mannschaftskollege bei Austria Klagenfurt, einer späteren Station des „vergessenen Champions“, wie ihn der Wiener „Kurier“ einmal bezeichnete, schwärmt noch heute: „Wenn er wollte, war er Weltklasse. Wie keinem anderen gehorchte dem Franz der Ball.“
Und in der Tat drückte sich Franz Hasil, der in der Nachkriegszeit aufgewachsen war und von seinen Eltern weder sportlich noch fußballerisch gefördert werden konnte, eben so aus, wie er großgeworden war: auf unbekümmerte Art und Weise, im breiten Wiener Dialekt und mit noch tieferer Seele. Rückblickend weiß der heute 77-Jährige, der noch immer im 2. Bezirk in Wien lebt und als ehemaliger Ausnahmekicker rund 2000 Euro Pension bezieht – übrigens inklusive der 26 Euro, die er monatlich für seine Dienstzeit bei Schalke 04 bekommt –, dass seine Lebensweise nicht immer förderlich für die Persönlichkeitsentwicklung war: „Ich war kein Spieler, ich war ein Trottel“, bemerkt er heute selbstkritisch, weil so manche Siegesprämie in den Casinos verschwand. Doch auch wenn Hasil und dessen Sprachschatz nicht gerade studiert daherkamen, hatte er doch etwas, was Herzog das Herz aufgehen ließ – und ihm eine wichtige Lehre für die Zukunft sein sollte.
Da spielen wir mal ein Spiel, und ich krieg den Ball, und der Pass misslingt, und das ganze Stadion pfeift mich aus und lacht mich aus, und er kommt nach dem Spiel zu mir: „Herzog, geh, hast das gehört, die Trottln?“
Sag ich: „Was?“
„Na, wie’s di ausgepfiffen haben, die Trottln, du wolltest des, des, des, des, des war genau richtig, denn wenn der Pass da hinkommt, passiert das so, so, so und so.“
Und ab dem Zeitpunkt habe ich vor dem Menschen so einen Respekt gehabt, abgesehen davon, dass er vielleicht der beste Fußballer Österreichs aller Zeiten war. (Andreas Herzog)
Eine Begegnung, die den damals noch ganz jungen Herzog heute noch bewegt – verbunden mit der Botschaft, anderen immer auf Augenhöhe zu begegnen, von jedem Menschen etwas lernen zu können und respektvoll miteinander umzugehen.
Rhetorik hin oder her – Hasil hatte aufgrund seiner langen und internationalen Erfahrung und sicherlich der Tatsache, dass er auf einer ähnlichen kreativen Position wie Herzog spielte, Erfahrungswissen, was der allgemeine Zuschauer nicht einmal erahnen konnte: Ein Gefühl für Ball, Mitspieler und Gegner zu entwickeln, für das Momentum des richtigen Abspiels, den freien Raum und den eigenen Stürmer, der auf den tödlichen Pass lauert – wenn dieser denn mitdachte. Er hatte den Blick für das Spiel, konnte es wie Herzog vorausahnen, das Spiel lesen, in „Wenn-dann-Beziehungen“ denken – die Kunst der ganz Großen.
Der Pass ist misslungen, alle haben geschimpft und gepfiffen, und der andere Kreative, 20 Jahre vor mir, hat mir gesagt, dass es genau das Richtige war. Der hat genau meine Ideen, was ich da gespielt hab, erkannt. Und ein anderer Trainer sagt: „Andi, das geht nicht, du musst ihn nach hinten spielen, spiel sicher.“ Der Trainer hätte mich auf Deutsch gesagt am A… lecken können. Und dann hätt ich den nächsten Pass mit noch mehr Risiko gespielt. Weißt, ich war ja so ein Sturkopf. Ich hab verschiedene Trainer gehabt. Die einen wollten, dass ich nur reinhaue, dass die Funken sprühen, und dann hab ich einen Co-Trainer gehabt, der die gleiche geniale Art zu spielen gehabt hat wie ich. Und auf wen glaubst, hab ich da gehört? Auf Franz Hasil oder auf die, die nur gesagt haben, ich soll reinhauen, dass die Funken sprühen? Das hat mich nämlich gar nicht interessiert. (Andreas Herzog)
Wissenschaftliche Erkenntnisse belegen, dass Weltklasseakteure, egal in welcher Profession, ihr spezielles Können mindestens 10.000 Stunden lang trainieren. Talent und Größe sind also nicht angeboren, sondern erwachsen durch aktives Lernen, unabhängig davon, wer man ist. Wenn wir also davon ausgehen, dass sich Andreas Herzog ab dem fünften Lebensjahr im Durchschnitt täglich zwei Stunden mit dem Ball beschäftigte, kommt er mit Anfang 20 schon locker auf die genannten 10.000 Stunden plus X. Es ist also davon auszugehen, dass sich in dieser Zeit und je intensiver er unter Profis in der Kampfmannschaft kickte, nach und nach sein Stil entwickelte, ihm klar wurde, was er wollte, und was nicht. Risiko statt Tiki Taka.
In einer gewissen Zone am Spielfeld musst du für mich auch teilweise Risiko spielen – Guardiola nicht, der will nur Ballbesitz kreuz und quer. Mit dem hätt ich als Spieler wahrscheinlich auch Probleme gehabt. Wenn ich 20 Meter vorm Tor steh und schieß, und der schreit „Naa, du musst nach außen spielen“, damit man noch mal um den Strafraum herum spielt – ist halt eine andere Idee vom Fußball. Aber das ist nicht meins. (Andreas Herzog)
Doch lässt sich der Fußball der 90er-Jahre nur bedingt mit dem heutigen Fußball vergleichen. Überhaupt fällt es Herzog nicht leicht, ähnliche Spielertypen zu finden, wie er es einmal war: „Es ist schwer, weil der Fußball hat sich schon verändert. So eine richtige Nummer 10 gibt es auf der Position nicht mehr – aber Spieler, die den Unterschied ausmachen schon. Messi und Ronaldo sind andere Typen.“