Auf diese Weise spielen die Figuren bei Goosen den Prozess der Assoziation an eine (für sie) attraktive Diskursschnittstelle mit Namen Ruhrgebiet sowie denjenigen der Ausbildung der damit verknüpften Ruhrgebietsidentität durch, einen Prozess, den die Leserinnen und Leser als einen der diskursiven Assoziation mitvollziehen können, wenn vielleicht auch gebrochen durch die Differenz von Fiktion und Wirklichkeit. Goosens tendenziell ironischer Grundton – stärker in Radio Heimat und Wenn Samstag ist als in Sommerfest – eröffnet dabei die Möglichkeit, zwischen einer emphatischen (das gesamte diskursive Angebot übernehmenden) und einer eher spielerischen Ruhrgebietsidentität (unter Einbezug von Distanzierungen) zu wechseln.
Das ist etwa der Fall, wenn der Ruhrgebiets-Fußball auf das Engste mit anderen Bereichen des individuellen oder gesellschaftlichen Lebens verkoppelt beziehungsweise auf diese anderen Bereiche abgebildet wird: Fußball mit der bevorstehenden Geburt des eigenen Kindes („Legt ein werdender Vater die Hand auf den Bauch seiner hochschwangeren Frau und spürt den Tritt des Thronfolgers, kann er nicht anders, er sagt: ‚Kumma, der flankt!‘“18), Fußball mit Sex (die Freundin gibt just kurz vor dem Anpfiff eines wichtigen Spiels endlich dem „Angebot zum verschärften Nahkampf“19 nach, so dass der Protagonist in arge Bedrängnis gerät), Fußball mit Medizin („Vor neun Wochen hat sein Arzt ihm eröffnet, dass seine Blutwerte in etwa den gleichen Tabellenstand aufweisen wie der VfL Bochum.“20), Familie mit Fußball (die Kinder bekommen die Vornamen bekannter Fußballer21) und so weiter. Auf diese Weise gibt es letztlich kaum einen Bereich des Lebens, der nicht irgendetwas mit Fußball zu tun hätte, sodass das Identitätsangebot in Sachen Ruhrgebietsbewohner via Fußball bei Goosen auf die Formel gebracht werden kann: „Fußball ist uns zwischen Duisburg und Unna, zwischen Recklinghausen und Hattingen ins Genom übergegangen, unsere Doppelhelix besteht nicht aus Aminosäuresequenzen, sondern aus echtem Leder.“22
Last but not least übernehmen Goosens Texte strukturell betrachtet (wie zahlreiche andere der Ruhrgebietsliteratur auch) mit ihren Plots vielfach Elemente der Dorfgeschichte des 19. Jahrhunderts, wie etwa die Grenzziehung gegenüber der Fremde nach außen, den punktuellen Gebrauch regionaler sprachlicher Varietäten, den gemeinsamen Vollzug von Ritualen (wie Biertrinken im Schrebergarten) und den Topos der Rückkehr in die Heimat bei gleichzeitiger Aufgabe höherer Ambitionen (Stichwort ‚München‘) sowie die Überlagerung von zwischenmenschlichen durch weitere Wert-Konflikte; dies alles eingebunden in den Rahmen einer Erzählung von der Selbstfindung als einer Form individueller Entwicklung von einer zunächst attraktiv erscheinenden Außenwelt zurück in den engeren Bereich der Herkunft. Als Identitätsangebot für Menschen aus dem Ruhrgebiet scheint das als Selbstvergewisserungs-Narration zu funktionieren.23
Ist dies das Spektrum der Diskurselemente, die in den Texten von Frank Goosen als Angebote zur Assoziation und damit als Vehikel zur Ausbildung von Identität fungieren, so bleibt allerdings noch die Frage, ob dabei verschiedene diskursive Positionen und dann auch durchaus unterschiedliche Identitäten entwickelt werden können, die jeweils andere/anderes ein- oder ausschließen. Hier wird man sagen können, dass die mit den literarischen Texten angebotenen diskursiven Andockmöglichkeiten es sowohl erlauben, eine engere regionale Identität ‚Bochumer VfL-Fan‘ auszubilden als auch eine das ganze Ruhrgebiet umfassende des ‚Ruhris‘. Erkauft wird dies durch starke Abgrenzungen nach außen, gegenüber München (als ‚Fußballmarke‘ und bisweilen schon als Ruhrgebietsfußball-Feindbild), aber auch gegenüber all denjenigen, die nicht zu den Nachfahren der ‚püttadligen Ureinwohner‘ gehören. Arbeitsmigranten, Flüchtlinge und Zugezogene sind bei Goosen daher in konzentrischen Kreisen um den mit den Attraktivitätsmarkern Reihenhaus, Fußballfeld, Omma, Ex-Freundin, alte Kumpels, Schrebergarten und Stammkneipe gespeisten Kernidentität angelegt. Fast noch integriert ist der die Bude führende türkische Schnauzbart; zum griechischen Restaurant in der ehemaligen Bochumer Bäckerei Schmidtmeier muss man schon die Straße als symbolische Grenze überqueren; es folgen – in weiteren konzentrischen Kreisen – ‚Ossis‘, Polen, Ukrainer, Russen, Araber. Was Goosens Texte mit einem solchen Modell von Nähe und Ferne nicht leisten können, das ist diskursive Positionen und damit Angebote für so etwas wie eine interkulturelle Identität anzubieten.
Mit Cornelia Koppetschs Unterscheidung in Heimat als Schicksalsgemeinschaft, in die man hineingeboren wird, die exklusiv ist und räumlich begrenzt, sowie in Heimat als kosmopolitisches, urbanes Lebensmodell,24 wären Goosens Texte am Pol der ersteren anzusiedeln. In der Summe der in diesen Texten realisierten Diskurselemente bieten sie eine räumlich und kulturell eingegrenzte, re-kollektivierende „Neogemeinschaft“25 mit mühsam konstruierter historischer Tiefe als Angebot zur Assoziation und zur Identitätsbildung an: räumlich, wegen der strengen, ausgrenzenden Beschränkung auf das Kernruhrgebiet rund um Bochum; kulturell wegen der starken Positivsetzung einheitlicher „Traditionen, Werte und Praktiken“;26 neo, da es die auf diese Weise konstituierte Gemeinschaft erst seit dem Vorfeld des Kulturhauptstadtjahres 2010 gibt; historisch wegen der ausgrenzenden Verweise auf die Geschichte von mindestens drei ortsansässigen Generationen. Ihren Schnittpunkt finden diese Elemente der Identitätsbildung in der Rede von ‚Heimat‘.27 Durch den ironischen und nicht selten auch selbstironischen Grundton bei Goosen sind Identitätsbildungen sowohl in Richtung konservativer Gemeinschaften als auch solche tendenziell kosmopolitischer Art denkbar; gehört der türkische Budenbetreiber doch noch in den engeren Kreis, nicht aber der libanesische Grillbesitzer.
Das Institut „Moderne im Rheinland“ – Zum Forschungsprojekt und seinem identitätskritischen Ansatz einer „Rhetorik der Region“
Gertrude Cepl-Kaufmann, Düsseldorf
Ein Blick in die Geschichte des Instituts „Moderne im Rheinland“
„Identitätskonzepte in der Literatur“, so lautet das Thema der Tagung, auf die sich dieser essayistische Rückblick bezieht. Die Einladung zum Eröffnungsbeitrag, den er vermittelt, verdankt sich der spezifischen Erfahrung des Instituts „Moderne im Rheinland“ an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf mit dem Thema. Meinen Beitrag verstehe ich entsprechend als eine Möglichkeit, ein Institut vorzustellen, dessen Forschungsfeld Identitätsdiskurse quasi immanent sind.
Der Fokussierung auf die Literatur in diesem Band möchte ich mit eben diesem Konzept entgegentreten: Rhetorik hatte und hat immer mehr im Blick als eine Sparte, so lehrt uns die Traditionslinie dieses seit der griechischen Antike ausdifferenzierten Systems der Redelehre, das letztendlich mit seinen septem artes liberales zu einem Eckpfeiler des mittelalterlichen Bildungsprogramms wurde und in der Geschichte der Nachkriegszeit mit der Tübinger Rhetorikschule eines Walter Jens seine einstige Bedeutung als Fundierung einer Öffentlichkeitstheorie in Zeiten der Demokratie wiedergewonnen und darüber hinaus differenziert weitergeschrieben hat. Jens’ Anspruch war, wie einst in der – wenn auch retrospektiv idealisierten – attischen Republik ganzheitlich, wenn auch – und hier darf die Literatur sich als prima inter pares verstehen – der Sprachkunst nicht nur eine wesentliche Funktion zukommt, sondern sie zugleich die Substanz ausmacht, die die hohen Ziele eines vir bonus überhaupt erst erreichbar macht. Vir bonus und vir bonus dicendi sind ein wunderbares Synonym – und heute würden wir selbstverständlich noch eines draufsetzen: auf diesen Plan gehört auch die – femina bona dicendi. Mehr an Persönlichkeit ließ sich in der damaligen Gesellschaft nicht erreichen und dass sie an die Kunst der Sprache gebunden war, das gibt auch und gerade der Literatur und ihrer Wissenschaft bis heute ein hohes Maß an Deutungskompetenz.