Die Mehrsprachigkeit der Luxemburger Gesellschaft, die sich im Literatursystem als einem gesellschaftlichen Teilsystem spiegelt, führt zu Reflexionen über die sozialen Funktionen und das künstlerische Potential der verschiedenen Sprachen.6 So stellt der Soziologe Fernand Fehlen ein „klares Prestigegefälle“7 zwischen der französischen und der deutschen Sprache bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein fest. Dabei kommen dem Französischen als Sprache der Bourgeoisie nicht nur symbolische Funktionen zu: Indem seine Beherrschung eine Voraussetzung für den Zugang zum höheren Dienst ist, gewinnt das Französische ganz konkrete, soziale Relevanz und wird zur Sprache der gesellschaftlichen Eliten.8 Das Deutsche hingegen ist als Alphabetisierungssprache die am besten beherrschte Schriftsprache für einen Großteil der Luxemburger:innen, während das Luxemburgische lange Zeit vor allem als mündliche Alltagssprache diente.9 Obwohl sich diese Konstellation in den letzten Jahren verändert hat (durch eine allmähliche Aufwertung des Luxemburgischen als Schriftsprache, aber auch durch eine stärkere Präsenz des Englischen), haben die soziolinguistischen Verhältnisse einen nachhaltigen Einfluss auf die ästhetische Beurteilung der Literatursprachen: Den drei Sprachen werden je unterschiedliche ästhetische Wirkungsbereiche zugesprochen.10 So begründet der Literaturwissenschaftler Frank Wilhelm seine These, dass es sich bei der mehrsprachigen Luxemburger Literatur tatsächlich um drei verschiedene Luxemburger Literaturen handele, mit einer angeblichen Affinität zwischen Literatursprache und beschriebenem Gegenstand:
Globalement on peut dire que les littératures en langues allemande et luxembourgeoise induisent des œuvres proches du vécu de leur public, correspondant à la sensibilité générale, alors que la littérature de langue française, produite par et pour la bourgeoisie, donne des œuvres plus abstraites où le quotidien luxembourgeois est moins à l’honneur, mais où l’écrivain peut davantage s’inscrire dans l’universel ou, au contraire, cultiver ses propres lubies. La littérature de langue allemande a peut-être le mieux assimilé la réalité socioéconomique. Même si certains auteurs grand-ducaux s’expriment en deux, voire en trois langues, cela ne veut pas dire qu’ils abordent la littérature sous le même angle. Certains sujets se traitent mieux dans telle langue que dans telle autre.11
Wilhelm argumentiert, dass sich mit dem Luxemburgischen und dem Deutschen alltägliche Erlebnisse besonders gut ausdrücken ließen, während das Französische einen höheren Abstraktionsgrad ermögliche. Die Literaturwissenschaftlerin Jeanne E. Glesener hat an anderer Stelle bereits dargelegt, dass Wilhelms These als Sprachtypologie nicht haltbar ist:12 In ihrem Aufsatz The Separateness of Luxembourgish Literatures revisited erläutert Glesener, dass eine strikt getrennte Betrachtung der Literatursprachen nicht erst seit dem vermehrten Aufkommen mehrsprachiger Texte in den 2000er Jahren wenig sinnvoll erscheint, da eine solche Trennung den Blick für sprachübergreifende literarische Entwicklungen versperrt.13 Wenngleich Wilhelms Unterscheidung demnach als generelle Taxonomie nicht funktioniert, trifft sie jedoch auf bestimmte Perioden zu, beispielsweise auf die 1960er bis 1980er Jahre. Luxemburgisch wurde lange Zeit von vielen Autor:innen nicht als ernstzunehmende Literatursprache berücksichtigt; dem Literaturwissenschaftler Mars Klein zufolge wurde es „in manchen poetologischen Überlegungen […] als reines Medium für volkstümliche Unterhaltung vornehmlich in den Sparten Volkstheater und Volkspoesie“14 angesehen. Seit den 1970er Jahren – im Zuge der 68er-Bewegung – wurden jedoch vermehrt auch „sozialkritische Stoffe vom Kabarett bis zum Roman, vom Hörspiel bis zum Dokumentartheater“15 auf Luxemburgisch verhandelt. Deutsch war ab diesem Zeitpunkt zwar immer noch die zentrale, jedoch nicht mehr die einzige Sprache des literarischen Engagements, der Subversion und des Experiments. Tatsächlich waren es zumeist auch die Schriftsteller:innen, die zunächst auf Deutsch schrieben, die sich in den 1970er und 1980er Jahren der luxemburgischen Sprache zuwandten. Die französischsprachige Luxemburger Literatur dieser Zeit war hingegen von ästhetizistischen und puristischen Tendenzen bestimmt.
Diese unterschiedlichen Literaturkonzeptionen, so die These des vorliegenden Beitrags, existierten jedoch nicht nur innerhalb des Luxemburger Literatursystems, sondern können vielmehr als ein Ausdruck von Tendenzen gedeutet werden, die sich auch außerhalb des Großherzogtums in den deutsch- und französischsprachigen Literatursystemen vollzogen. Besonders sichtbar wurden diese Tendenzen anlässlich der Mondorfer Dichtertage, die zwischen 1962 und 1974 alle zwei Jahre im Luxemburger Kurort Mondorf organisiert wurden und namhafte Vertreter:innen der deutsch- und französischsprachigen Literatur zusammenbrachten.16 Jede Ausgabe der Dichtertage stand unter einem Motto, so z.B. „Kann Poesie die Welt verändern“ (1966) oder „Deutsche und französische Literatur seit 1945“ (1968). Diese Fragestellungen, die den Diskussionsrahmen definieren und den Austausch zwischen deutsch- und französischsprachigen Autor:innen anstoßen sollten, kehrten jedoch vielmehr die grundlegenden Unterschiede zwischen den Sprachgruppen hervor. Dem Luxemburger Autor und Journalisten Henri Blaise zufolge ging es bei der Konfrontation in erster Linie „um moderne und progressive Literatur, um Engagement, um ‚neuen Wein in alten Schläuchen‘, kurz die traditionsbelastete ‚querelle des Anciens et des Modernes‘.“17 In einem Beitrag für den Deutschlandfunk fasste der deutsche Autor und Redakteur Dieter Hasselblatt seinen Eindruck, den er bei der Mondorfer Tagung 1966 von seinen französischsprachigen Kolleg:innen gewonnen hatte, folgendermaßen zusammen:
Die französischen Kollegen sind zu bewundern: daß sie sich so stark von einer Weltliteratur und deren jüngsten Entwicklungen abzukapseln vermögen, daß sie mit einem so guten Gewissen nichts zur Kenntnis nehmen als sich selbst, und daß sie nicht bemerken, wie sehr sich ihre eigene Gegenwartsliteratur […] um anderthalb literarische Epochen verspätet. Symbolismus, nichts anderes als was Mallarmé gemacht hat, und wenn die Frage der Veränderung der Welt durch die Literatur diskutiert wurde, vermochten die französischen Schriftsteller und Kritiker sich mit der schönen Gebärde eines selbstsicheren Eskapismus auf die Devise zurückzuziehen „der Schriftsteller wohne zuallererst nicht in der realen Welt, sondern in einer ‚Monde des Mots‘, in einer Welt der Worte.“18
Den Luxemburger Kommentator:innen zufolge vertraten die meisten der anwesenden französischsprachigen Autor:innen eine ästhetizistische Literaturkonzeption, während ihre deutschsprachigen Kolleg:innen eine gesellschaftskritische, engagierte Kunst forderten. Der Luxemburger Germanist Alain Weins spricht rückblickend von einem in Mondorf zutage tretenden „interkulturellen Mißverständnis“,19 und dem Schweizer Schriftsteller Urs Widmer zufolge passten die französisch- und deutschsprachigen Autor:innen so gut zusammen „wie Pfeffer und Schlagsahne“.20 Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass sich diese Aussagen in erster Linie auf die Mondorfer Gäste bezogen; es handelt sich um Eindrücke, die anlässlich der Dichtertage entstanden und generelle Tendenzen widerspiegelten. Natürlich existierte damals auch im französischsprachigen Raum die Idee einer engagierten Literatur – man denke nur an Sartre. Diese in Mondorf sichtbar gewordenen Unterschiede zwischen den Sprachgruppen sind für die Beschreibung des Luxemburger Literatursystems in den 1960er und 1970er Jahren insofern relevant, als auch in Luxemburg ein Antagonismus zwischen Deutsch und Französisch schreibenden Autor:innen bestand.21 Wie bereits erwähnt, gilt in der Tat auch für den Luxemburger Kontext, dass die Deutsch schreibenden Autor:innen eine gesellschaftspolitisch engagierte Literatur vertraten, während ihre Französisch schreibenden Kolleg:innen sich kaum politisch äußerten. Es liegt nahe, das jeweilige Literaturverständnis durch eine Orientierung der Luxemburger:innen an