Die Rhetorik als „Lehre“ zur Identitätsfindung
Warum lässt sich von der Region zur Landschaft, nicht aber von der Rhetorik ins Postrhetorische wechseln? Sie, die Rhetorik, hat das Wechseln sozusagen im Blut! Es gehört zu ihren Generierungsregeln:
Rhetorik betrachtet die Produktions- und Wirkungsästhetik von Sprache bis zu dem Sprachspielen und materialen Äquivalenten auf der Ebene der Produktion, ebenso aber auch als lebendiges Feld aktiver Rezeptionen und letztlich als Erinnerungskultur, die zu enträtseln und beschreibbar zu machen keine andere Kulturtechnik so geprägt hat wie die Rhetorik. Ihr naiver Ansatz der inventio ist nichts anderes als ein Bild für das kulturelle Gedächtnis. Politik, Kultur, Bildung, nichts existiert davon ohne die Verständigung über das Element Sprache, Bild, Gestus, zugleich auch die Verständigung über die Regeln des Verstehens: Theorie und Methodik als Säulen von Wissenschaft waren hier immer im gemeinsamen Boot, selbst in den Zeiten von Ideologie und intendiertem Nichtverstehen.
Es gibt Gründe, für die Rhetorik zu werben: Die Tübinger Rhetorikschule, von der ich gesprochen habe, hat den Zusammenhang von Welt und Gesellschaft als substantielle Faktoren, denen mit der Funktion der Rhetorik erst die Möglichkeit einer adäquaten diagnostischen Korrespondenzdisziplin gegeben wurde, eindringlich formuliert. Dort ist auch das Grundgesetz einer demokratischen Rhetorik aufgestellt worden, mit der die Identität von Reden und Wollen festgeschrieben und deren gesellschaftliche Relevanz bewiesen wird. Nicht von ungefähr geht dies zeitgleich mit dem Gadamer / Habermas Diskurs zum Universalitätsanspruch der Hermeneutik. Wenn aber zeitgleich das Rhetoriksystem in den Anwendungsbereichen Werbung und Managerschulung ausgeschlachtet wurde, so zeigt dies zwar die konstante, gegenwartsadäquate Leistungsfähigkeit, zugleich aber auch die Gefahren einer nur die Oberfläche persuasiver Kommunikation abschöpfenden Anwendung. Dass diese funktionale Beschränkung nicht notwendig, sondern die Rhetorik in einem viel weiter reichenden Sinn nutzbar zu machen ist, könnte ihr Einsatz in der kulturwissenschaftlichen Forschung beweisen.
Rhetorik ist vom Denkbild her geradezu auf das Phänomen Erinnerung fixiert. Sie zeigt aber auch, dass Erinnerung nur dann rezipierbar ist, wenn sie in eine Form gegossen als Kulturträger anzutreffen ist. Nicht zuletzt gibt sie den Weg an, wie sie entstanden ist, also ins Zeichen gefunden hat, und wie sie wieder dechiffrierbar wird. Dazu lässt sich die Theorie der loci hervorragend einsetzen. Begriffe wie „Denkbild“, „Erinnerungskultur“ und deren Varianten, Erinnerungsorte, Memorialia etc., haben hier ihren Platz. Hatten die alten Griechen in anschaulicher Weise nach den Örtern ihres Gedächtnisses gefragt, wenn sie sich auf eine Rede vorbereiteten, lässt sich auch heute noch für jede Form der Mündlichkeit, für jede Rede, aber auch für jede Form der Schriftlichkeit die antike Locus- oder Toposlehre mit Gewinn heranziehen. Ist es das private Gedächtnis, das Auskunft gibt über die loci ad personam, die in einer epideiktischen Rede zu bedenken sind, entsprechen dem die Akten in der Juristerei, die Archivalien in den Geschichts- und Geisteswissenschaften, nicht zuletzt das Wissenschaftssystem, das Träger vieler Schubladen ist, aus denen schriftliche und mündliche Zeugnisse hervorgezaubert werden können, um Erkenntnisse zu reproduzieren. Das Rhetorik-Lehrbuch von Gert Ueding und Bernd Steinbrink bietet einen differenzierten Katalog kritischer Fragen, der nur noch für das anstehende Problem der komparatistischen Regionalforschung weitergeschrieben werden muss.1 Ist es die loci-Lehre, die eine quellenkritische Arbeit und damit die Qualität von Forschung sichert, wird es keine mündliche und schriftliche Äußerung geben können, die ohne negative Konsequenzen auf die Denkbilder der Redeproduktion verzichten könnte. Ihre Phasen der Produktion folgen ebenfalls nicht nur der Tradition, sondern sind auch einem anthropologisch und in abendländischer Tradition angereicherten und dem Gedächtnis inskribierten Ablauf unterworfen. Jeder Manager, der eine Rede vor seinen Aktionären hält, jede Werbung, vermittels derer Buttermilch oder Babywindeln verkauft werden sollen, wird diesen Fundus wahrnehmen. Überschreibungen des Gedächtnisses, wie sie die kulturwissenschaftliche Forschung so sprachreich analysiert, hat ohne Kollisionen in dieser antiken Theorie und Praxis Platz. Die in die Kulturwissenschaften drängenden Ansätze der Gedächtnisforschung, etwa durch die Arbeiten von Maurice Halbwachs2 oder Pierre Nora3, geben diesen Vorstellungen ein naturwissenschaftlich begründetes Unterfutter. Achim Landwehr4 hat mit seinem „Essay zur Geschichtstheorie“ unter dem Titel Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit 2016 eine Fundierung für die Gegenwart vorgelegt. Doch nicht nur unsere Fakultät arbeitet daran:
Hier wären die Forschungen und die durchaus offensive Wissenschaftspraxis des Münchner Neurowissenschaftlers Ernst Pöppel von Bedeutung. Als Leiter des Humanwissenschaftlichen Zentrums an der Maximilians-Universität hatte er als einer der Pioniere im Sinne einer „Sinnesphysiologie“ die neurologische Vernetzung zu seinem Thema gemacht. Ganz im Sinne der Rhetorik kommt er zu einem Begriff, der deren Fundierung aufgreift und weiterschreibt. Die Leistung des Gehirns, das eine Fülle von Informationen ungeordnet aufnimmt und sie intern vernetzt, lässt sich in diesem Begriff „Syntopie“ anschaulich machen und damit unserem Bild von „Kulturtopographie“ wie eine Art Skelett oder besser Röntgenaufnahme zur Seite stellen. Pöppel wird mit seiner Syntopie zum Vermittler einer aktualisierten Rhetorik, die zugleich eine Synthese der Wissenschaften, implizit damit der Kulturen und kulturellen Praktiken leistet. Im Interview mit Christiane Fricke hat Pöppel den Begriff „syntopische Landschaft“ umschrieben. In Pöppels Definition sind Bild und Speicher faktisch zwei Seiten eine Medaille:
Der Begriff […] ist mit einer personalen Identität verbunden. Wenn man sich fragt, was macht eigentlich mein Ich aus, […] dann stellt man fest, dass es die Bilder sind, die ich aus meiner Vergangenheit in mir trage. Es prägen sich also in mir Bilder ein, die meine Lebensgeschichte erst eigentlich ausmachen, und zwar aus einem abrufbaren bildhaften Gedächtnis. Diese Bilder sind immer mit Orten verbunden. Es sind immer Orte, an denen etwas geschehen ist. Das heißt für mich, dass Syntopie die Grundlage bzw. der Begriff ist, um personale Identität fassbar zu machen. […] Ich vertrete im Übrigen die These, dass die Orte wieder wichtiger werden, weil wir immer virtueller kommunizieren.5
Die Rhetorik überzeugt bis heute als elaboriertes methodisches Konzept eines systematischen Erfragens. Hier begegnet es sich mit den Aufgaben einer Kulturwissenschaft und macht, wie gezeigt, das gesamte Feld der topoi/loci-Lehre interessant und aktualisierbar. Dies gilt auch im Verbund mit weiteren Bereichen dieser erkenntnisträchtigen Disziplin. So ordnet sich die topoi/loci-Lehre in das System der partis artis, der Konzeption der fünfphasigen Bearbeitung jeder Rede ein:
Befragt man das System der Rhetorik, so zeigt es sich gerade in dieser Redelehre und den sie anthropologisch stützenden Anweisungen als kompetenter Partner. Die Leistungen der Rhetorik sind für jede der partes artis von beträchtlichem Wert und können in bemerkenswerter Weise für die wissenschaftlich-analytische Arbeit an einer Kulturgeschichte der Region übertragen und genutzt werden:
1 Die inventio wird weitergeschrieben in einer Theorie der Erinnerung. Sie ist mit dem topoi/loci-Verständnis der Antike gegeben. Die topoi/loci-Lehre vermittelt einen Fundus von Zeichen, der sich als Erinnerungsschatz in allen bewahrenden Institutionen und Medien, aber auch der privaten Erinnerung bereithält.
2 Die dispositio prägt den strukturierenden, intentionalen Umgang mit der Erinnerung. Hier setzt die Fundierung der Erforschung von Räumen und Regionen über die Analyse ihrer unbewussten, intendierten und subversiven Wirkungsmuster an, z.B. der politischen Programmschriften, in denen sich die planerischen Investitionen zur Erreichung politischer Ziele zeigen, z.B. die offiziellen Vorgaben für die groß angelegten Jahrtausendfeiern, nach denen sich alle lokalen Ereignisse auszurichten hatten. Texte und Zeichen waren immer auch bewusste Inanspruchnahme des Erinnerungsarsenals.
3 Die elocutio