Hausemer beschreibt das Verhältnis der Luxemburger Schriftsteller:innen zur deutschen Sprache als ein zwiespältiges, als eines, das durch Nähe und Distanz zugleich bestimmt ist. Neben den historischen Gründen, die Hausemer nennt, gibt es sicherlich auch linguistische: Luxemburgisch ist – wenngleich es als eigenständige Sprache politisch anerkannt ist – ein moselfränkischer Dialekt. Diese Nähe erleichtert es vielen Luxemburger:innen, Deutsch zu erlernen und die Sprache einigermaßen gut zu beherrschen; gerade die Nähe ist es vielleicht aber auch, die eine klare Abgrenzung nötiger erscheinen lässt. Hausemer prägte in diesem Kontext den Begriff der „Stiefmuttersprache“.37 Was das Verhältnis der Französisch schreibenden Luxemburger Autor:innen zu Frankreich angeht, vermutete Hausemer in seiner Rede, dass es „in dieser ausgeglichenen Relation weniger Animositäten geben“38 dürfte. Mit Blick auf die Aussagen Edmond Dunes kann dies eigentlich nur als Euphemismus bezeichnet werden.
Eine solche Gegenüberstellung, wie sie in dem vorliegenden Beitrag vorgenommen wurde, kommt nicht ohne Verallgemeinerungen aus. Was hier beschrieben wurde, sind Tendenzen, die natürlich nicht für alle Luxemburger Autor:innen des Untersuchungszeitraums geltend gemacht werden können. Selbstverständlich gab es Ausnahmen, die nicht in das hier skizzierte Schema hineinpassen, wie die Französisch schreibenden engagierten Lyriker Phil Sarca (Jeannot Scheer) und René Welter. Darüber hinaus gab es auch damals schon Schriftsteller:innen, die mehrere Literatursprachen nutzten. Hier kann etwa die Dichterin Anise Koltz genannt werden, die auf Deutsch debütierte und sich erst ab den 1970er Jahren exklusiv der französischen Sprache widmete, ohne ihr Literaturverständnis dafür zu verändern. Dennoch sind die tendenziellen Unterschiede im Sprach- und Identitätsverständnis bei der Auseinandersetzung zwischen Deutsch und Französisch schreibenden Autor:innen der 1960er und 1980er Jahre nur allzu augenfällig. Davon ausgehend müsste das Verhältnis der Luxemburger Autor:innen zur eigenen kulturellen Identität – als Teil ihrer posture – eingehender und über einen längeren Zeitraum untersucht werden, um Veränderungen und Einschnitte beschreiben und typisieren zu können – beispielsweise aus einer komparatistischen Perspektive, im Vergleich mit anderen, kleinen und mehrsprachigen Literatursystemen Europas. Für viele junge Luxemburger Schriftsteller:innen des 21. Jahrhunderts scheinen die gewählten Schriftsprachen jedenfalls keine grundlegende Rolle mehr für ihr Literaturverständnis zu spielen. So schreibt Elise Schmitt mit Stürze aus unterschiedlichen Fallhöhen deutschsprachige Kurzgeschichten ohne direkten Luxemburg-Bezug, während Ian de Toffolis französischsprachige Dramentexte ihren soziokulturellen Entstehungsraum durchaus kritisch thematisieren (z.B. L’homme qui ne retrouvait plus son pays oder Tiamat).39 Samuel Hamen zeigt, dass auf Luxemburgisch über Luxemburg erzählt werden kann, aber nicht muss (der Roman V wéi Vreckt, W wéi Vitesse steht hier dem beim Concours littéraire national 2019 ausgezeichneten und noch unveröffentlichten Roman I.L.E. gegenüber), und Jeff Schinker beweist mit dem Prosaband Sabotage, dass man in mehreren Literatursprachen zugleich (nicht nur) über Luxemburg schreiben kann. Solche Entwicklungen deuten darauf hin, dass nicht nur die gesellschaftliche, sondern auch die literarische Mehrsprachigkeit in stetem Wandel befindlich ist, was sich in der Sprachwahl von Autor:innen ebenso zeigt wie in ihren ästhetischen Positionierungen.
Identität oder Identitäten? Interdiskurstheoretische Überlegungen am Beispiel von Frank Goosen und der Ruhrgebietsliteratur
Rolf Parr, Duisburg-Essen
I. Ausgangsüberlegungen
Von verschiedenen identitätstheoretischen Ansätzen aus ist für die Moderne und ihre Gesellschaften konstatiert worden, dass man es in aller Regel weder für Gruppen noch für einzelne Personen mit einer einzigen Identität zu tun hat.1 Vielmehr stehen kollektive2 neben individuellen Identitäten, wobei einzelne Individuen zugleich mehrere, untereinander durchaus differierende Gruppen- und Individualidentitäten sowohl diachron als auch synchron ausbilden können. Von daher scheint die Vorstellung einer singulären, alle Lebensbereiche und Konstellationen integrierenden Identität in Zeiten zunehmend konstatierter und akzeptierter Diversität eine zu einfache Konstruktion zu sein.
Von diesem Befund ausgehend versuche ich im Folgenden zunächst vom Ort der Interdiskurstheorie aus in einem ersten Schritt ein Denkmodell der Ausbildung mehrfacher individueller und kollektiver Identitäten zu entwickeln3 und zu zeigen, wie Literatur im engeren und Mediendiskurse in einem weiteren Sinne die Ausbildung von Identitäten mal stützen, mal kritisch hinterfragen, um dann in einem zweiten Schritt die Identitätskonzepte einiger Texte der Ruhrgebietsliteratur exemplarisch zu analysieren.4 Diese stellt insofern ein besonders geeignetes Referenzobjekt dar, als das Ruhrgebiet und mit ihm die Ruhrgebietsliteratur konstitutive Merkmale von Globalisierung in der Regionalität aufweist (eine große, breit über die unterschiedlichsten sozialen und kulturellen Milieus gestreute Population, mit pluralen Lebensstilen, vielfältigen Migrationskulturen und Transnationalitäten). Die Regionalität des Ruhrgebiets und die seiner Literatur muss daher immer auch als eine Form von Globalität in der Regionalität gedacht werden, was wiederum zahlreiche sich überlagernde Identitäten mit sich bringt.
II. Identität (inter-)diskurstheoretisch denken
Lässt man die in den Geistes- und Sozialwissenschaften kursierenden theoretischen Konzepte von Identität Revue passieren, so lassen sich grob zwei Richtungen unterscheiden. Eine Gruppe von Ansätzen fasst Identität als Ergebnis kommunikativen Handelns zwischen Akteuren auf, die mal stärker als Rollenträger, mal stärker als soziale Divergenzen verhandelnde Partner konzipiert sind. Identität ist dann das Ergebnis eines komplexen Aushandlungs- und Sozialisationsprozesses.1 Demgegenüber gehen diskurstheoretisch fundierte Ansätze genau umgekehrt „von der Priorität des Diskurses und seines ‚Wir‘ gegenüber“ den „einzelnen Interakteuren“ aus.2
Als interdiskurstheoretisch arbeitender Literatur- und Kulturwissenschaftler möchte ich auf diesen zweiten Ansatz im Folgenden näher eingehen und zeigen, wie er nach solchen diskursiven Positionen fragt, die Kulturen mit den in ihnen zirkulierenden Interdiskursen bereithalten, nämlich Positionen der (durchaus affektiv besetzten) Attraktivität, denen sich Individuen assoziieren und so einen Sozialkörper mit ‚Zusammenhalt‘ – also auch mit Identitätspotenzial – bilden können. Dazu werde ich den Ansatz der Interdiskurstheorie zunächst in einigen Grundzügen vorstellen, ihn dann auf die Identitätsproblematik hin spezifizieren und nach den spezifischen Leistungen fragen, die ein solcher Zugriff auf das Phänomen ‚Identität‘ bietet.
II.1 Die horizontale Achse der Wissensspezialisierung
Wie Michel Foucaults Diskurs-, aber auch Niklas Luhmanns Systemtheorie und Reinhart Kosellecks historische Semantik geht auch die Interdiskurstheorie vom Befund zunehmender horizontal-funktionaler Arbeits- und Wissensteilung seit etwa dem Beginn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus. Demnach sind moderne Gesellschaften in verschiedene, relativ autonome Wissensbereiche gegliedert, die jeweils spezifische Formen der Rede, je eigene Spezialdiskurse ausgebildet haben. Die Gesamtkultur einer modernen Gesellschaft besteht dann in ihrer horizontalen Gliederung aus dem Spektrum ihrer Spezialdiskurse, zum Beispiel naturwissenschaftlichen, human- und sozialwissenschaftlichen sowie kultur- und geisteswissenschaftlichen.
Um Verständigung über die von Foucault in den Blick genommenen Grenzen von Diskurs- und Wissensformationen hinaus zu gewährleisten, muss es jedoch auch re-integrierende Diskursformen geben, die den Zusammenhalt und das Zusammenspiel der eigentlich auseinanderdriftenden gesellschaftlichen Teilbereiche sichern. Moderne Gesellschaften und ihre jeweiligen Kulturen haben sich daher nicht