Das kann noch verdeutlicht werden anhand der Schriftstellerin Marie Knitschke, die im Gegensatz zu den angeführten vier männlichen Modellautoren Strobls in realiter noch die Vorbehalte gegenüber weiblichen Akteuren im Kulturbetrieb Ende des 19. Jahrhunderts überwinden musste. In Erlebtes und Erdachtes (1892) publizierte sie Skizzen und Aphorismen, die in ihrer Modernität weit über das Maß an Exaltiertheit hinausgingen, welches die Einwohner in der Kleinstadt Mährisch-Schönberg, in der sie als Musiklehrerin arbeitete, zu akzeptieren bereit waren. Sie erschrieb sich ihre schriftstellerische Freiheit, indem sie – ähnlich dem vierten Modellautor Strobls – Salonstücke für den örtlichen Damenverein und kleine Dramen sowie Zeitungsartikel zur Heimatgeschichte der Stadt verfasste. Ihrer lokalen Gebundenheit entfloh sie in umfangreichen Briefwechseln mit Persönlichkeiten der modernen Kulturszene: u.a. Gerhart Hauptmann, Anton Bruckner und Edvard Grieg, dem auch ihre Aphorismenbände gewidmet sind.
Knitschkes Biographie und Strobls autobiographischer Roman belegen, dass sich künstlerische Ambitionen außerhalb der wenigen anerkannten modernen Metropolen wie Paris, London, Berlin und bereits mit Abstrichen Wien, zunächst kompensatorisch mit den konkreten Erwartungen des soziokulturellen Umfelds auseinandersetzen mussten. In den Böhmischen Ländern war diese „Anpassungsleistung“ für deutschsprachige Autoren umso drängender, da auch die Hauptstadt Prag um 1900 keineswegs großstädtische Bedingungen aufwies. Zum Vergleich: Um 1900 lebten in Prag ca. 10.000 nichtjüdische Deutsche und damit etwas weniger als in Mährisch-Schönberg, dem Wohnort Knitschkes. Dazu kamen noch 11.000 Juden, die sich in den amtlichen Zählungen zur deutschen Umgangssprache bekannten, aber auch dadurch werden nicht die 25.000 Einwohner der Kreisstadt Iglau erreicht, in der Strobls Roman spielt. Obwohl der Kulturbetrieb in Prag stärker institutionalisiert und freilich auch vielfältiger war, lassen sich deshalb innerhalb der Prager Literatur dieselben Mechanismen nachweisen, wie sie Strobl paradigmatisch für die Region Mähren beschreibt und selbstverständlich treten auch die vier Modellautoren in Erscheinung. Natürlich fehlen in der Literatur aus Prag auch nicht die heimatgeschichtlichen Referenzen, mit denen Marie Knitschke ihr modernes Schreiben rechtfertigte: von Rainer Maria Rilkes urbane Landschaft und Bevölkerung gleichsam verklärenden Larenopfern und Franz Kafkas Erzählung Das Stadtwappen über Oskar Wieners Alt-Prager Guckkasten und die fiktionalen Stadtreportagen Egon Erwin Kischs bis zu den Romanen Der Stadtpark von Hermann Grab oder Der Golem von Gustav Meyrink.
Auch die Autoren Prags unterliegen also den regionalen Identitätsmodellen, aber sie werden – und das ist die Crux, mit der regionalorientierte Ansätze immer noch zu kämpfen haben – von der Literaturwissenschaft nicht ebenso behandelt. Einerseits wird die regionale Verortung bei den Exponenten der sogenannten Prager deutschen Literatur gerne verschwiegen. So bietet das bei Metzler erschienene Rilke-Handbuch als kulturräumliche Kontakte zwar Beiträge zu u.a. Ägypten, Italien, Skandinavien und Spanien an, aber keinen zu den Böhmischen Ländern.11 Das mag vordergründig damit zu rechtfertigen sein, dass Rilke selbst die frühen Prager Arbeiten aus den entstehenden Werkausgaben redigierte, weil sie nicht den Blick auf die späteren Leistungen trüben sollten. Allerdings bezieht Rilke diese kritische Haltung nur auf die Texte, nicht auf die eigene Stellung im soziokulturellen Kontext der Böhmischen Länder. Seine Unterstützungsanträge bei der Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Litteratur in Böhmen zwischen 1899 und 1913 erweisen ihn als ebenso interessierten wie kundigen Teilnehmer an den regionalen Debatten.12 Wird bei Autoren wie Rilke also der Anteil regionaler Phänomene am Prozess der Künstlerwerdung ausgeblendet, so wird bei denjenigen, die es nicht in den rezenten Kanon der deutschen Literatur geschafft haben, gerade der Teil der literarischen Arbeit überbetont, mit dem sie sich innerhalb eines regionalen Gefüges in ihrer Künstleridentität legitimierten. So führte beispielsweise der im gleichen Maße erfolgreiche wie belanglose Dorfroman Der Glockenkrieg dazu, dass sein Verfasser Ernst Wolfgang Freissler als provinzieller Heimatliterat eingestuft wurde. Wegen dieser minderen Qualifizierung wird dann erst gar nicht in Erwägung gezogen, dass Freissler in anderen Texten einen komplexen Umgang mit fremdkulturellen Sichtweisen hätte entwickeln können, wie sie kulturwissenschaftliche und postkoloniale Lesarten privilegieren. Während Joseph Conrad, dessen Texte durch die Übersetzungen Freisslers erstmals in den deutschen Sprachraum vermittelt wurden, mit der Erzählung Herz der Finsternis zum Paradeautor kulturwissenschaftlicher Forschung aufstieg, fristen die in manchem vergleichbaren Erzählungen und Romane Freisslers ihr Dasein bis auf weiteres in den Tiefen regionaler Literaturbetrachtung.13
In beiden Richtungen, die Beispiele könnten unschwer vermehrt werden, wird die akkumulative Identitätszuschreibung missachtet, die ich hier thesenhaft und vorerst nur als heuristisches Element vorgestellt habe. Die Fälle sollen zeigen, dass die akkumulative Identitätszuschreibung, die in kulturell eigenständigen Regionen üblich ist, bisher in den gängigen Forschungsparadigmen nur unzureichend anerkannt wird. Aber sowohl in den literarischen Texten als auch in den Lebenswegen der regionalen Akteure ist eine Reflexion über Identitätsstrategien gegeben. Während also divergierende, ambivalente und nicht valide Überzeugungen und Haltungen in der Forschung nachgerade zur Moderne längst anerkannt sind, besteht noch ein Defizit darin, diese als multiple Identitätsvarianten den jeweiligen literarischen Akteuren auch zuzugestehen.
Dass Strobls Texte sich für aktuelle Interpretationsansätze – etwa anhand des Theorieensembles von Judith Butler – eignen, wurde bereits nachgewiesen.14 So scheint es auch lohnenswert, den Fokus von der im Fenriswolf explizit behandelten Modellierung von Künstleridentitäten hinsichtlich allgemeiner Identitätsbildungsmodelle zu erweitern und zu fragen, ob die narratologisch auratisierten Lebenswege der Modellautoren nicht als itinerative Re-inszenierungen gelesen werden könnten, somit ein respektables Spektrum maskuliner role-models zur Zeit der Jahrhundertwende abgeben würden.15 Das sei aber einer anderen Studie vorbehalten. Aber schon jetzt gilt: Staubmilben aller regionalen Literaturen, hütet euch!
Schriftstellerische Identitätsentwürfe im mehrsprachigen Luxemburger Literatursystem der 1960er bis 1980er Jahre1
Fabienne Gilbertz, Luxemburg
Mehrsprachigkeit ist nicht erst seit den Zeiten der Globalisierung ein wesentliches Merkmal vieler Literatursysteme; weltweit sind literarische Systeme durch ein Neben- und Miteinander verschiedener Sprachen geprägt. Das Luxemburger Literatursystem ist keine Ausnahme: Seit seiner Entstehung sind Deutsch, Französisch und Luxemburgisch die am meisten verwendeten Literatursprachen.2 Dabei ist der Sprachgebrauch jedoch nicht, wie in Belgien, der Schweiz oder anderen mehrsprachigen Literatursystemen Europas, an bestimmte Regionen oder Sprachgemeinschaften gebunden. Daraus ergibt