Für kritische Analysen grundlegend, aber für praktische Anregungen offenkundig wenig hilfreich ist der sog. „Strukturalismus“, der in der Marx’schen – also nicht in der „realsozialistischen“ – Tradition gründet: Er unterlegt allen inter- oder transnationalen Beziehungen eine ökonomische Basis; in den Strukturen des kapitalistischen Weltsystems sind Wohlstand und Macht ungleich verteilt, wofür Kolonialismus, Imperialismus und Abhängigkeitsbeziehungen, aber auch Krieg verantwortlich zu machen sind. Die an Eigeninteresse und Selbsthilfeprinzip orientierte Politik der Nationalstaaten führt zu Dominanz, Sicherheit und Wohlstand für einen Teil der Welt, damit aber auch zu Abhängigkeit, Ausbeutung und Unterentwicklung für andere Teile. Zwischenstaatliche Kooperation führt unter diesen Bedingungen nicht zu Frieden und Gerechtigkeit; dazu wäre ein radikaler Wandel der Strukturen der Ungleichheit vorauszusetzen.
Die theoretische Auseinandersetzung über internationale Politik wird seit Jahrzehnten geführt, oft in langen Wellenbewegungen nach intensiven Debattenrunden – meist recht zeitgeistabhängig und immer modebewusst; die verästelten Differenzierung sind nur schwer überschaubar – Abgrenzung und Konkurrenz beleben auch hier das Geschäft. Besser orientieren kann eine schlichte Dreiteilung:
Macht-basierte Ansätze gehen in realistischer Tradition von den Machtbeziehungen unter Staaten aus und sind prioritär an Sicherheit interessiert; weil internationale Kooperation direkt von der Machtverteilung zwischen den beteiligten Staaten abhängt, geben sie ihr nur geringe Chancen; den Staaten unterstellen sie, kompromisslos immer nur ihren relativen Vorteil zu suchen, damit kein anderer bessergestellt wird.
Interessens-basierte Ansätze untersuchen in z.B. institutionalistischer Perspektive die Interessenkonstellationen von Staaten und auch anderer Akteure, aus denen sich reelle Motive für Kooperation ergeben; den Akteuren unterstellen sie, absolute Vorteile für sich zu suchen, auch wenn andere noch bessergestellt werden.
Wissens-basierte Ansätze legen in kognitivistischer bzw. konstruktivistischer Interpretation Prozesse der Wissensdynamik, der Kommunikation und der Identitätsbildung zugrunde, die verbindliche Normen für kooperatives Verhalten schaffen; den staatlichen Akteuren unterstellen sie, durch die Interaktion untereinander und besonders mit nicht-staatlichen Akteuren lernen zu können, allseitige Vorteile zu suchen.
Die politische Bedeutung dieser akademischen Debatten für die Organisation der Vereinten Nationen lässt sich reduzieren auf die Kernfrage: Leben wir noch im Zeitalter der „Anarchie“ zwischen den Staaten oder sind wir schon im Stadium einer „global governance“?
Seit den Anfängen der Lehre von den Internationalen Beziehungen galt, dass zwischen den Staaten Anarchie herrsche und also letztlich das Recht des Mächtigeren gelte, weil es über den souveränen unabhängigen Staaten keinerlei legitime Instanz gibt, die Autorität hätte, deren Verhalten zu regeln; diese realistische Einsicht wurde trotz der stetigen Entwicklung des Völkerrechts und Erfahrungen mit gelingender Kooperation zum verfestigten Dogma, das vielfach bezweifelt, aber nicht grundsätzlich widerlegt werden konnte.
In jüngerer Zeit überwog allerdings zumindest rhetorisch das modische Wunschdenken von „global governance“ oder „Weltregieren“: das Versprechen lautet, dass zielorientierte und planvolle Regelung von politischen und gesellschaftlichen Prozessen auch ohne von oben steuernde Zentralinstanz möglich sein soll, wenn die Rolle von Staaten eingeschränkt oder gar tendenziell ersetzt durch die Aktivität von zivilgesellschaftlichen Akteuren, die national wie international „vernetzt“ agieren – also ohne eine supranationale Leitung auskommen.
Problematisch sind beim sog. „Weltregieren“ allerdings zentrale Annahmen und Einschätzungen, die nicht so ganz der politischen Wirklichkeit gerecht werden: was wirklich ist, ist zwar sicherlich nicht so einfach ohne theoretische Reflexion zu erfassen oder zu verstehen – aber es ist halt wirksam. Denknotwendige aber zum Teil nur stillschweigend vorausgesetzte Elemente von „global governance“ existieren bisher nur als Ideen oder als Behauptungen, allenfalls als schwache Tendenzen: Die unterstellte Gemeinwohlorientierung einer „globalen“ Zusammenarbeit ist allenfalls als kontrafaktisch anmutende Hoffnung eher technokratischen Charakters annehmbar; die Prognose vom Bedeutungsverlust der Staaten als meist destruktive Machtzentren zugunsten der Zunahme zivilgesellschaftlicher Selbstregierung ist normativ ambitioniert, aber insgesamt wenig wahrscheinlich; die entscheidende Frage, ob und wie so etwas wie eine (groß-)machtunterlegte politische Führung der „governance“ nötig ist, wird ausgeblendet. Weil das „global governance“-Denken ohne Beachtung seiner stillschweigenden Voraussetzung einer globalen Ordnung ausgesponnen wird, ist dabei eben das politische Problem als schon erledigt vorausgesetzt, zu dessen Lösung oder wenigstens Milderung über Multilateralität nachgedacht und internationale Kooperation versucht wird.
Was das Dogma der Anarchie als unrealistisch ignoriert, wird von der Mode der „global governance“ idealisiert und haltlos übertrieben: die Option einer multilateralen Kooperation von staatenübergreifender oder gar globaler Reichweite mittels internationaler Organisationen im Rahmen von internationalen Regelungssystemen bzw. „internationalen Regimen“ – ohne eine übergeordnete Steuerungsinstanz, aber fokussiert durch Probleme, gehemmt von Ungleichheiten und mit Konflikten belastet.
Auseinanderzuhalten sind also
die Einsicht, dass wir immer mehr komplexe und interdependente Fragen von globaler Reichweite haben, die – zumindest teilweise – in weltweiten Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen gründen, weswegen sie – zumindest teilweise – „über“ den Handlungsebenen einzelner Staaten oder Staatengruppen bearbeitet werden müssen,
und der fröhliche Aufruf, gegen all diese Übel machen wir statt dem Hickhack zwischen den Staaten lieber gleich „global governance“ auf dem Niveau des „Weltregierens“, am besten als Zivilgesellschaft mithilfe der NGOs.
„governance“: drei Möglichkeiten (nach Zürn 1998, S. 166ff)
„governance by government“: Regelungen zwischen den Staaten – also der herkömmliche Multilateralismus
„governance with government“: Regelungen zwischen Staaten und zivilgesellschaftlichen Akteuren mit mehr oder weniger führender Rolle der Regierungen – ein sich entwickelnder erweiterter Multilateralismus
„governance without government“: Regelungen ohne Staaten – nur eine recht spekulative Vision
2.2 Multilateralismus
Grundsätze und Methoden der meist stabilitätsorientierten Außenpolitik und der immer konservativen Diplomatie ändern sich nur allmählich, aber seit dem 19. Jahrhundert entwickeln sich neben der klassischen bilateralen Kommunikation zwischen Staaten, die diskret oder gar als „Geheimdiplomatie“ verborgen bleibt, neue und sichtbarere – aber deswegen noch nicht transparente – Formen multilateraler Diplomatie im aufkommenden internationalen Konferenzwesen, dann im Völkerbund und nun in den Vereinten Nationen.
Entscheidend für den Spielraum von Diplomatie, zumal der multilateralen, ist ihr machtstruktureller Rahmen: wird die Welt eher unipolar dominiert von einer Hegemonialmacht (wie dem antiken Römischen Imperium), wird sie von zwei konkurrierenden Vormächten bipolar geführt (wie von Frankreich und Deutschland im 19. Jh., von den USA und der Sowjetunion im 20. Jh.) – oder sind in einer multipolaren Welt große und kleine Mächte auf Abstimmung und Zusammenarbeit angewiesen?
Unipolarität bzw. Bipolarität als Machtstruktur sind nicht zwingend gleichzusetzen mit Unilateralismus bzw. Bilateralismus als außenpolitischer Methode, aber Multipolarität jedenfalls erfordert einen wie immer gearteten Multilateralismus; allenfalls eine relativ große und starke Macht, die sich für autonom und gar autark hält, mag glauben, sich den Zumutungen und Mühen des Multilateralismus entziehen zu können –