Auch in den Interessenkonflikten der sich weiter globalisierenden Wirtschaft und bei den Problemen der sog. Entwicklung zeigt sich das Dilemma, dass jeder beteiligte Staat für sich das Maximum auf Kosten anderer sichern will, damit der eigene Anteil gewahrt oder gesteigert werden kann – aber damit allen und auch sich selbst schadet; sowohl das liberale Konzept des Freihandels als auch der Gedanke der aktiven Kooperation durch gemeinsame Institutionen zeigt, dass ein nur auf die vermeintlich eigenen wirtschaftlichen Interessen bezogenes Verhalten gerade dazu führen kann, dass alle Staaten insgesamt einen geringeren Effekt erreichen: der Kuchen wird kleiner statt größer.
Beim Umwelt- und Klimaschutz finden sich die Staaten in einem ähnlichen Dilemma: Jeder Staat, dessen Regierende eine Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen überhaupt wahrnehmen, will seine Umwelt schützen und seinen Nutzen aus globalen Umweltgütern sichern, aber ohne die ökonomischen Kosten dafür zu übernehmen – also schiebt er die Verantwortung auf andere Staaten/-gruppen und versucht, seinen Kosten-Anteil für die ohnehin meist unzureichenden kollektiven Anstrengungen möglichst gering zu halten. Das mindert die Chance auf effektive internationale Zusammenarbeit mit geregelter Lastenverteilung; und das wiederum schädigt auf lange Sicht alle Staaten, die kooperationswilligen wie die unwilligen.
Zum Schutz der Menschenrechte erzwingt kein vermeintliches Nullsummenspiel ein Kosten/Nutzen-Kalkül: kein Staat hat unmittelbar einen Vorteil oder einen Nachteil davon, wenn ein anderer Staat die Menschenrechte respektiert oder verletzt, sofern nicht eine friedensbedrohende oder handelshemmende Situation entsteht. Aber der Einfluss der Zivilgesellschaft und deren Standards moralisch-politischer Korrektheit scheint mangelndes Interesse von Regierungen an Bürger- und Menschenrechten ausgleichen zu können; anders als komplizierte sicherheits-, handels- oder klimapolitische Fragen sind massive Menschenrechtsverletzungen nicht so leicht an die kaum jemand interessierende Außenpolitik abzuschieben. Leider aber können Regierungen Menschenrechte und ihre Auslegung als vorgeschobene Argumente oder ihren Schutz als willkommenes Instrument für machtpolitische und andere Zwecke nutzen.
Der dummen, aber bequemen Devise „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß!“ wird reflexartig auf fast allen Feldern internationaler Politik gefolgt. Sind Staaten auch nur Menschen (oder kleine Kinder) – oder warum sonst verhalten sie sich in rationalem Kalkül dann doch im Effekt irrational? Ein Blick auf die vorherrschenden Perspektiven, in denen die Rolle der Staaten in der internationalen Politik gesehen und verstanden wird, ist hilfreich für Orientierung und Kritikfähigkeit: Die möglichen Blickwinkel und verschiedenen Sichtweisen auf das weltpolitische Geschehen sind nicht objektiv als so und nicht anders vorgegeben, sondern sind bedingt durch subjektive Wahrnehmungen der eigenen Interessen und durch vorherrschende Annahmen über die Natur des Menschen und seiner Welt – sei es in Form gängiger Meinungen und Vorurteile, sei es im Gewand ausgearbeiteter sozialwissenschaftlicher Theorien.
Leider hat sich die theoretische Debatte über die internationalen Beziehungen zu sehr verselbständigt in fiktionales Wunschdenken oder narrative Selbstbezogenheit – oft sind die Probleme, die sich vor allem deutsche Fachvertreter/-innen machen, nur schwer in Verbindung zu bringen mit Aussagen von Praktikern oder Berichten von sachkompetenten Journalisten über die Welt da draußen.
Offenkundig dienen Theoriedebatten auch Zwecken jenseits der theoretischen Kernfunktion; eigentlich sollten Theorien – nur – diskutierbare Arbeits-Grundlagen schaffen für Beschreibung und Erklärung undurchschauter Phänomene, indem sie
Erfahrungen, Beobachtungen und Informationen in Bereiche zu strukturieren und einzuordnen helfen, damit aber auch als bestimmte Ausschnitte von Realität eingrenzen;
komplexe Sachverhalte auf einfache bzw. idealtypische Merkmals- oder Ablaufsbeschreibungen zu reduzieren erlauben, damit aber zugleich bestimmte Aspekte betonen, andere ausblenden;
praktisches Handeln anzuleiten versprechen, damit jedoch zwangsläufig das Notwendige, Zweckmäßige und/oder Sinnvolle aus ihrer Perspektive formulieren;
Argumente vorgeben, mit denen dieses erwünschte praktische Handeln zu rechtfertigen ist.
Eine Theorie soll versuchsweise eingenommener Standpunkt sein, aber nicht Heimat und schon gar nicht Schutzbunker; theoretische Argumente sollen nicht als Kampfmittel dienen, sondern als Werkzeuge – wie gut geschliffene und geputzte Brillen, die man je nach „objektiven“ Licht- und Wetterbedingungen oder „subjektiver“ Sehkraft auch wechselt.
Bewährte Kriterien für die Einordnung der Theoriebildung zur internationalen Politik sind die den Akteuren unterstellten Interessen, die verstanden werden
entweder nur als auf den eigenen Nutzen fixiert
oder als an einem universalen Gemeinwohl orientiert
und die eingenommenen Perspektiven, die ausgehen
„subjektiv“ von den Motiven, die aufgrund der menschlichen Triebstruktur vorgeben sind oder durch leitende Ideen formuliert werden,
oder „objektiv“ von materiellen Strukturen wirtschaftlicher Prozesse oder realen Organisationsformen.
Kombiniert ergibt das eine Vierfeldertafel (vgl. Menzel 2001, S. 21ff):
Das Menschenbild des klassischen Realismus ist negativ, zumindest skeptisch: der Mensch mag vernunftbegabt sein, ist aber vorrangig triebgesteuert, am eigenen Wohl und Nutzen interessiert und nur begrenzt lernfähig. Kooperation ist immer fragil, realistischer ist es, sich auf Selbsthilfe zu verlassen und dafür die Voraussetzungen zu schaffen. Das bedeutet militärische Aufrüstung und die wiederum führt dank des Sicherheitsdilemmas zum Wettrüsten. Der Friedensbegriff ist negativ definiert, nämlich dass kein Krieg ist. Wenn es zum Krieg kommt, muss er gewonnen werden können – oder zumindest für einen Angreifer nicht zu gewinnen sein, was ihn abschrecken soll. Diese Logik gilt auch auf anderen Politikfeldern: Selbstbestimmte Kontrolle über Ressourcen ist verlässlicher als Kooperation um gemeinsame Güter. Die souveränen Nationalstaaten sind die wesentlichen Akteure in einem anarchischen internationalen System, in dem Macht ausschlaggebend ist und also möglichst eine Vormachtstellung zu sichern ist – Hegemonie statt Zusammenarbeit ist die praktische Konsequenz.
Die kritische Gegenposition zum lange vorherrschenden Machtrealismus liefert der „Idealismus“, der Mensch und Gesellschaft für durch Argumente beeinflussbar und zum Guten lernfähig hält: Vernunft und Fortschritt machen eine friedliche Welt möglich, in der Konflikte durch Ausgleich und Kooperation lösbar sind. Der Anarchie zwischen den Staaten ist mit sachlicher Aufklärung und rationalem (Ver-)Handeln zu begegnen, zumal wenn weltweiter Wohlstand durch ungehinderten Austausch und internationale Arbeitsteilung entsteht. Dieser Gedankenwelt entstammt auch der zu einer Orthodoxie gewordene „Sozialkonstruktivismus“, der statt Staat, Macht und Interessen als gegebene Realitäten zu analysieren herausarbeiten will, wie politische Wahrnehmung, Kommunikation und Normen die internationalen Beziehungen bestimmen – oder gar erst „konstruieren“. Während das Sicherheitsdilemma ein „realistischer“ Ausgangspunkt ist, bleibt eine Art „Unsicherheit-der-Umsetzung-Dilemma“ als Konsequenz der „idealistischen“ Vorstellungen.
Eine vermittelnde Synthese zwischen macht-fixiertem Realismus und moral-ambitioniertem Idealismus bieten Ansätze des „Institutionalismus“; der hat zwar auch kein freundlicheres Menschenbild als der Realismus, zieht aber daraus andere Konsequenzen: Kooperation ist prinzipiell möglich und sinnvoll, nur muss sie realistisch und nicht idealistisch fundiert sein; eben der Eigennutz kann zur Zusammenarbeit motiveren – wenn sie sich eindeutig auszahlt. Verlässlich kontrollierte Rüstungsbegrenzung kann das Sicherheitsdilemma neutralisieren, damit Ressourcen für produktivere