Dann möchte ich einen Zweifel an der Unabhängigkeit von für Sprache zuständigen Hirnarealen und Inhalten des Bewusstseins anmelden. (Dies betrifft nicht die frühkindliche Gehirnentwicklung, bei der Spracherwerb und Denken weitgehend getrennte Prozesse darstellen. Es geht bei der Anmeldung dieses Zweifels um den Entwicklungsstand von jenen Menschen, mit denen wir reflektierend im Kreis sitzen.) Wenn ich über etwas bewusst nachdenke, denke ich es quasi ausschließlich versprachlicht oder in Bildern. Diffuse unter-/vorbewusste Gefühle kann ich häufig (noch) nicht in Worte fassen – aber in dem Maße, wie mir etwas bewusst wird, bekommt es häufig auch eine Sprache. (Übrigens genau in dieser Reihenfolge!51) Ich behaupte hier keine untrennbare Verbindung zwischen Sprache und Denken, denn diese Hypothese gilt nicht nur als streitbar; sie zwingt auch dazu, solch allgemeine Begriffe wie „Sprache“ und „Denken“ eindeutig zu definieren – was die Diskussion schon an der Basis erschwert. Aber auf der Grundlage alltäglicher Beobachtungen kann man immerhin eine starke Kopplung oder zumindest hohe Zeitnähe von Bewusstwerdungsprozessen und der (inneren) Versprachlichung von Gedanken behaupten.
Eine andere interessante Idee besteht darin, dass die Externalisierung eines Gedankens im Sinne eines optischen oder akustischen Reizes ja auf mich zurückwirkt: Ich sehe, was ich schreibe – ich höre, was ich gerade selbst sage. Ich spüre, dass mein Herz schneller schlägt, während ich rede. Ich höre mein Zittern in der Stimme. Indem ich etwas von mir gebe, wirkt es quasi in Form eines Reizes, der durch eine weitere Wahrnehmungsschleife läuft, auf mich zurück.52 Es ist jedenfalls – nach allem, was wir jetzt schon über das Gehirn wissen – eher unwahrscheinlich, dass etwas, das ich ausdrücke, an mir selbst sang- und klanglos vorbeigeht. Wahrscheinlicher ist sogar, dass die Wahrnehmung des eigenen externalisierten Gedankens verstärkend wirkt. Wie stark die Wirkung dieses Effekts ist, kann ich allerdings nicht beurteilen – noch dazu, weil die Wirkung mit Sicherheit individuell variiert. Was dieser Gedanke auch nahelegt ist, dass mir mein Gehirn im Akt der Externalisierung eine „fokussierte Aufmerksamkeit“ schenkt.
Möglich ist auch, dass die Intention der Versprachlichung mich zu inneren Ordnungsprozessen zwingt, welche der Versprachlichung selbst vorangehen.53 In der Praxis von Therapie und Kommunikationstraining gibt es einige Begriffe, die hier andocken: ➔ Dialog des inneren Teams und ➔ intrapersonelle Kommunikation sind nur zwei davon.
All dies sind Hinweise – keine Beweise, dass es sich tatsächlich so verhält. Aber Hinweise reichen möglicherweise aus, der Spur zu folgen und das Zusammenwirken von Gedanken und Sprache weiterhin zu erforschen.
So what: Erlebnisorientierte Neuropädagogik?
Wozu dieses Kapitel? Im Grunde geht es um einen neuen Vorschlag, Erlebnispädagogik zu betrachten – diesmal aus der Perspektive einer relativ jungen, naturwissenschaftlichen Disziplin. Gleichzeitig scheint es so, als würden uns auch genau durch diesen (möglicherweise unbeholfenen) Versuch, der EP ein Fundament zu geben, Grenzen aufgezeigt: Die der erlebnispädagogischen Arbeit in gleichem Maße wie jener Idee, auf der Basis neurowissenschaftlicher Erkenntnisse eine eigene Didaktik oder gar Pädagogik aufzubauen. Denn wie bereits gezeigt, sucht sich das Gehirn selbst heraus, was es lernt. Und wofür es sich entscheidet, hängt maßgeblich mit der individuellen Geschichte (und den daraus resultierenden spezifischen Verschaltungen) des einzelnen Menschen zusammen. Es bleibt aber anzuzweifeln, dass wir im Regelfall so hochgradig individualspezifisch arbeiten können, dass wir über den zu erwartenden Lerneffekt Vorhersagen machen könnten. Darum wird die Erlebnispädagogik so rasch keine neuen und genialen neurodidaktischen Konzepte entwickeln, sondern weiterhin eine aus neurowissenschaftlicher Perspektive eher oberflächliche, dafür jedoch funktionierende Praxis gestalten.
Umgekehrt konnte ich mich bei der Recherche zu diesem Kapitel nicht des Eindrucks erwehren, dass die Neurowissenschaften überwiegend erforschen und beschreiben. Pädagogisch oder didaktisch neuartige Konzepte, welche die gängige erlebnispädagogische Praxis radikal verändern würden, habe ich bislang nicht gefunden. Die universelle Neurodidaktik oder Pädagogik kann es vermutlich auch gar nicht geben – mit diesem Ansinnen würde die Gehirnforschung der Komplexität, Wandelbarkeit und Vielfalt ihres eigenen Forschungsgegenstandes nicht gerecht. So ernüchternd dies zunächst anmutet, so entlastend ist es auch, denn es nimmt allen Beteiligten den Erfüllungs- oder Beweisdruck. Der interdisziplinäre Fachdiskurs bleibt fruchtbar: Wir Erlebnispädagogen können mit Hilfe der Gehirnforschung immer wieder darüber nachdenken, was wir da eigentlich gerade tun und wie wir es tun. So entrinnen wir vielleicht der Versuchung, unsere Arbeit nur über unsere Erfahrung zu begründen. Den Neurowissenschaftlern hingegen mag es vielleicht ein Ansporn für neue Gedankenentwicklungen sein, dass hier Leute stehen, welche die berechtigte Frage stellen: „Und was machen wir jetzt mit all diesen Erkenntnissen praktisch?“
Viele Fragen sind und bleiben offen. Ein paar kleine Anregungen fanden sich vielleicht in diesem Kapitel – welches keine Reise und keine Expedition sein konnte, sondern lediglich ein erlebnispädagogischer Ausflug in die Neurophysiologie.
1.3 | Modell erlebnispädagogischer Prozessplanung |
Unser Team arbeitet prozessorientiert – so wie es auch unsere Definition von Erlebnispädagogik einfordert. Prozessorientiertes Arbeiten bedeutet nicht, keinen Plan zu haben. Es bedeutet auch nicht willkürlich irgendwas zu machen und zu schauen, was passiert. Prozessorientiertes Arbeiten bedeutet einen dauernden Abgleichprozess vom eigenen Vorgehen mit den in der Gruppe beobachtbaren Prozessen. Das ist ein wenig wie beim Segeln mit dauernd wechselnden Windverhältnissen – ein laufendes Korrigieren des Kurses durch Veränderungen an Segel und Steuer. Und diese Kurskorrektur richtet sich nach dem, was tatsächlich gerade passiert. Man stellt sich also darauf ein, ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren. (Was nicht heißt, dass nicht auch das Ziel während der Fahrt ein anderes werden kann.) Diese Metapher lässt sich noch weiter ausbauen und weiterspinnen – zunächst möchte ich es aber dabei belassen.
Das im Folgenden dargestellte Prozessplanungsmodell wurde von uns entwickelt um zwei Dinge zu zeigen:
1 Wie entwickeln wir überhaupt ein erlebnispädagogisches Programm, wenn sich Prozesse nicht antizipieren lassen? In der Praxis müssen wir ja schließlich trotzdem ein Programm planen!
2 Was bedeutet Prozessorientierung für uns?
Das Modell soll dabei einen Denkvorgang abbilden, der in der Praxis natürlich oft viel unstrukturierter passiert. Oftmals handeln wir intuitiv – und verstehen erst hinterher (in der eigenen Reflexion), warum wir so oder anders gehandelt haben. Ich möchte es zweimal an Hand von Beispielen durchgehen – einmal bezogen auf einen Makroprozess und einmal bezogen auf einen Mikroprozess.
Die Schritte bleiben dabei immer annähernd die selben:
Pädagogisches Richtziel in den Blick nehmen (1)
Das Prozessziel der aktuellen Situation anvisieren (2)
Über eine sinnvolle Intervention oder ein Medium nachdenken (3)
Prüfen der Rahmenumstände hinsichtlich Intervention oder des Mediums. Spezifizierung der Anwendungsanforderungen (4)
Entscheidung für die spezifische Intervention (5)
Vorausblick: Was geschieht danach?
Anwendung der Intervention/des Mediums
Erneute Überprüfung Richtziel und Prozessziel (6)
Erneutes Nachdenken über sinnvolle Intervention oder Medium (3)
siehe hierzu die Grafik „Erlebnispädagogische Prozessplanung“
Praxisbeispiel Prozessplanung 1: Dialog des Leitungsteams bei einem neuen Auftrag
Mart: „Also, wir haben das Projektteam, dass sich aus zwei unterschiedlichen Teilgruppen zusammensetzt