Dies bedeutet, dass ein bestimmtes Ereignis nicht einfach ein Erlebnis ist, sondern dass es für den Einzelnen zum Erlebnis wird, wenn es sich von seinen bisherigen Erfahrungen unterscheidet. So entscheidet die Disposition und der persönliche Hintergrund des Einzelnen wesentlich darüber, was ein Erlebnis ist, und weniger die Situation selbst. „Erlebnisse stellen also unterschiedliche subjektiv bedeutsame Wirklichkeitskonstruktionen dar, die so vielseitig und vielschichtig sind, wie die Menschen selbst.“11
Dies bedeutet, dass es grundsätzlich fraglich ist, inwiefern Erlebnisse von Pädagogen überhaupt geschaffen werden können und ob man auf dieser Grundlage überhaupt von einer Erlebnispädagogik sprechen kann.
Denn bereits der Begriff Erlebnispädagogik impliziert, dass Erlebnisse planbar seien und man mit einer bestimmten Wirkung des Erlebnisses rechnen könne.12
Der Erziehungswissenschaftler Oelkers diskutiert eben diese Fragestellung und kommt zu dem Ergebnis, dass Erlebnisse zwar eine starke erzieherische Kraft hätten, insbesondere insofern sie sich auf die Lebenswirklichkeit des Einzelnen beziehen und sich biographische Zusammenhänge feststellen ließen – er sagt aber auch, dass Erlebnisse, sofern sie einen bestimmtes pädagogisches Ziel verfolgten, an Wirkungsgrad verlören, da sie, sofern sie lediglich als Mittel zum erzieherischen Zweck verstanden würden „schwach im Sinne der Absicht“13 seien. Auch sei die didaktische Verwendung von Erlebnissen problematisch, weil sich Erlebnisse „nicht so funktionalisieren (lassen), daß am Ende Ziel und Effekt übereinstimmen.“14 Daher sei die Beziehung zwischen dem freien, ungeplanten und richtungsoffenen Erleben und der eine Absicht verfolgenden Erziehung schwierig. Oelkers plädiert schließlich für „ungebundene Erlebnisse“15, bei denen die Erziehungsabsicht nicht das Erleben determiniert. Oelkers Argumentation erscheint mir nachvollziehbar – jedoch auch etwas einseitig.
So ist ein Erlebnis ohne pädagogische Zielsetzung vielleicht intensiver und stärker in der Lernerfahrung, dafür geht dem Pädagogen die Möglichkeit verloren, das Erlebnis überhaupt pädagogisch nutzen zu können.
Ihm fehlt demzufolge die Möglichkeit, in den Prozess eingreifen zu können, wenn die Teilnehmer Lernerfahrungen machen, die einer gewünschten konstruktiven und pädagogisch sinnvollen Entwicklung entgegenstehen16.
Indem der Pädagoge jedoch den Prozess beeinflusst (wenn er ihn auch nicht zu steuern vermag), kann er evtl. „negative“ Lernerfahrungen17 auffangen und durch seine Intervention in neutrale oder positive Erfahrungen umwandeln.18
Der Erlebnispädagoge als Person nimmt Einfluss auf den Prozess – allein durch seine Präsenz beeinflusst er bereits Atmosphäre, Situation und andere Personen.19 Indem er vor einer Aktion einen bestimmten Fokus setzt und die Teilnehmenden in Überlegungen über Prozessverlauf und mögliche Ziele mit einbezieht, lenkt er die subjektive Wahrnehmung der Einzelnen und gleicht sie in gewisser Hinsicht aneinander an. Hierzu dient auch die Reflexion.
Somit wird nicht nur ein bestimmtes Ziel über die Aktion verfolgt, sondern die Wahrnehmung auf dieses Ziel gelenkt. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit (!), eine bestimmte Thematik auch tatsächlich bearbeiten zu können.
Ob sich diese Thematik mit der Bearbeitung aber schon erledigt, kann prinzipiell nicht vorhergesagt werden – dies ist aber ein grundsätzlich pädagogisches, nicht ein spezifisch erlebnispädagogisches Problem.
Es stimmt natürlich, dass sich Erlebnisse per se nicht kreieren und steuern lassen. Jedoch können günstige Rahmenbedingungen für bestimmte Erlebnisse geschaffen werden, die auf Annahmen über den Erfahrungshintergrund der jeweiligen Teilnehmer beruhen.
Das hat zur Folge, dass sich die Anforderung an die Erlebnispädagogik stellt, zum Einen jede Aktivität spezifisch auf die Hintergründe der Teilnehmer zu planen und zum Anderen prozessorientiert zu arbeiten.20 Indem eine Aktivität mit dem Wissen durchgeführt wird, dass jeder Teilnehmer sie anders erlebt und man nicht genau wissen kann, was die gemachten Erfahrungen für den Einzelnen bedeuten, wird ein „geheimer Lehrplan“ von Seiten der Leitung vermieden – zugunsten einer Lernerfahrung, die der individuellen Situation des Einzelnen entspricht. Auf diese Weise kann Erlebnispädagogik zielorientiert und gleichzeitig ergebnisoffen arbeiten.
Nach Wahl21 gehört zum Erlebnisprozess zudem der Aspekt des Ausdrucks erlebter Eindrücke mit dazu. Dieser muss nicht unbedingt auf sprachlicher Ebene stattfinden, jedoch sind Erleben und Reflexion eng miteinander verflochten. Er unterscheidet zwischen den beiden Begriffen „erleben“ und „ein Erlebnis haben“, indem er sagt, dass jedes Lebewesen erlebt – ein Hund freut sich, wenn er sein Herrchen sieht. Ein Erlebnis hat man jedoch erst dann, wenn die reflektierende Distanz hinzukommt, wenn man das Erleben erlebt – und der Hund erlebt sein Erleben wohl kaum als solches, er hat sein Erleben nicht.22 Da die Reflexion somit unerlässlich zum Erleben gehört, ist es müßig, von „unmittelbaren Erlebnissen“ zu sprechen und zu fordern, dass ein Erlebnis ohne pädagogischen Zusammenhang stattfinden muss.23
Statt dessen kann es gerade von Vorteil sein, wenn ein Pädagoge den sowieso stattfindenden Prozess der Reflexion unterstützt und dem Erlebenden somit hilft, aus dem Erleben ein Erlebnis werden zu lassen. Wahl beschreibt hier das, was im erlebnispädagogischen Diskurs gemeinhin als Erfahrung bezeichnet wird: Ein Erlebnis, dessen Sinn durch die reflexive Komponente herausgearbeitet wird.24 Aufgrund obiger Überlegungen lässt sich schließen, dass zu den wesentlichen Elementen der Erlebnispädagogik neben dem Erlebnis, der Zielgerichtetheit, der Ganzheitlichkeit und der besonderen Einbeziehung des Raums der Aspekt der Prozessorientierung und in bedingtem Maße jener der Reflexion gehört. Daraus leiten wir folgende Definition von Erlebnispädagogik ab:
Erlebnispädagogik ist eine auf Ziele hin ausgerichtete, aber prozessorientierte, ganzheitliche pädagogische Intervention mit Medien, welche Ereignisse ermöglichen, die sich stark vom Alltag der Adressaten unterscheiden.
In unserer Weiterbildung erläutern wir unsere Definition gerne so:
… auf Ziele hin ausgerichtet … : Ohne Ziel bedarf es keiner Pädagogik.
Wenn Pädagogik mit „einen Menschen führen“ – besser gefällt mir „begleiten“ – übersetzt werden kann, dann braucht es eine Richtung. Im Optimalfall gibt mein Klient Ziel und Richtung vor. Oftmals haben wir eine Mischung aus unterschiedlichen Zielen: Es gibt das Ziel eines externen Auftraggebers, das Ziel einer Gruppe, das davon differierende Ziel eines einzelnen Teilnehmers, das Ziel des Trainers auf der Basis seiner situativen, pädagogischen Einschätzung. All diese Ziele gilt es gegeneinander abzuwägen und möglichst in Einklang miteinander zu bringen. Nicht zu vergessen ist dabei, dass sich Ziele im Laufe des Prozesses auch verändern können.
… prozessorientiert …: D.h. sich stets im pädagogischen Handeln an den Gruppenprozess anpassend. Hierbei hilft die Reflexion dabei, die Bedürfnisse der Gruppe/der Einzelnen herauszufinden und das Programm darauf abzustimmen. Ob der Trainer gerade mit seinen Vorstellungen der Prozessgestaltung noch richtig liegt, kann er nur im Dialog mit seinen Teilnehmern herausfinden. Das Thema Prozessorientierung soll an späterer Stelle nochmals besonderen Raum bekommen.
… ganzheitlich … : Mit allen Sinnen, emotional, kognitiv, auf Bewusstsein wie Unterbewusstsein wirksam. Warum nur ganzheitliche Lernerfahrungen