… mit Medien, welche Ereignisse ermöglichen, die sich stark vom Alltag der Adressaten unterscheiden … : Die bislang treffendste Definition des Erlebnisbegriffs hat meiner Meinung nach Meier-Gantenbein geliefert (siehe oben). Vor diesem Hintergrund wird auch klar, warum es in der Erlebnispädagogik keine Festlegung auf bestimmte Medien geben kann. Das Medium Kajak unter bestimmten Voraussetzungen, gekoppelt mit einer pädagogischen Absicht und als unbekanntes Lernfeld kann Erlebnispädagogik sein. Kajakfahren in einem Kajakkurs hingegen muss nicht Erlebnispädagogik sein. Und Kajakfahren mit einer Gruppe von Inuit hat für diese vermutlich zu wenig vom Charakter eines Ereignisses, das einen Unterschied zur Alltagsstruktur macht – und wird aller Voraussicht nach nicht im selben Maße erlebnispädagogisch wirksam wie andernorts. Damit ein Medium erlebnispädagogisch wirksam wird, muss es also kontextabhängig ausgewählt werden. Es kann somit nur kontextabhängige Ein- oder Ausgrenzungen von Medien in die Erlebnispädagogik geben.
Ähnlich ist in diesem Zusammenhang auch die Gestaltung des räumlichen Umfeldes zu bewerten: Es gilt abzuwägen, ob die Prozessqualität durch ein anderes Umfeld gesteigert oder ob durch das Erlebnis ein vertrautes Umfeld zu etwas anderem wird.
Aufgrund dieser Überlegung ist auch Natur (im Sinne von „nicht durch den Menschen bewusst geformte und kontrollierte Umgebung“) und der Einsatz von „Natursportarten“ für die Erlebnispädagogik nicht mehr als grundlegende Basis zu betrachten – wiewohl natürlich ertragreich und bewährt! Ich wollte auf nichts davon verzichten! Doch Citybound, Budopädagogik, Zirkuspädagogik und süddeutsche Formen des PA-Ansatzes verzichten oftmals auf Natur oder „Natursportarten“ und müssen dennoch dem erlebnispädagogischen Feld zugerechnet werden.
Ich denke, dass hierdurch besonders deutlich hervorgeht, dass sich Erlebnispädagogik über Absicht und Wirkweise definieren muss und sich nicht an Medien und äußeren Räumen festmachen lässt.
Die oben vorgestellte Definition ist nur eine weitere Definition.
Doch sie ist grundlegend für unsere Vorstellung von Prozessgestaltung.
Sie will (und kann!) auch andere Definitionen nicht ersetzen. Aber sie kann anregen, darüber nachzudenken, was eigentlich unabdingbar ist um „erlebnispädagogisch“ im Sinne einer pädagogischen Absicht zu arbeiten.
1.2 | Aus dem Erlebnis lernen – Ein Ausflug in die Neurophysiologie |
Erlebnispädagogische Arbeit lebt von dynamischen, dialogischen und systemisch zu betrachtenden Prozessen. Solche Prozesse können bis zu einem gewissen Grad beeinflusst, aber niemals präzise gesteuert werden – erlebnispädagogische Arbeit „funktioniert“ nicht linear. Die Einflussfaktoren sind vielfältig und komplex – was nicht heißt, dass man nicht trotzdem eine hohe „Trefferquote“ erzielen kann. Ein Forschungsdesign jedoch, das alle Einflussfaktoren erlebnispädagogischen Handelns angemessen erfasst, wird weiterhin eine Herausforderung bleiben. Jenseits quantitativer Wirksamkeitsstudien gibt es allerdings Erkenntnisse, die Mut für die Arbeit machen; Erkenntnisse, die ein neues Grundlagenverständnis der Erlebnispädagogik (und verwandter Felder!) ermöglichen und damit fundierte Erklärungen für das liefern, was wir schon seit Jahren praktisch tun. Diese Erkenntnisse kommen aus den Neuro-Wissenschaften25. Ich werde in diesem Kapitel jene Gedanken wiedergeben, die für unsere erlebnispädagogische Arbeit besonders interessant sein dürften.
Im Vorfeld möchte ich noch auf eine sehr spezielle Problematik hinweisen:
Die des Lern-Begriffs.
Ich laste es der Tradition unseres Schulsystems an, dass „Lernen“ häufig mit einem Vorgang bewusster Informationsverarbeitung und Speicherung von Faktenwissen assoziiert wird. Auch wenn Bildungspläne und Lehrerausbildungen mittlerweile versuchen, den Lernbegriff anders zu füllen – in vielen Köpfen scheint dies noch nicht angekommen zu sein. In einem hohen Anteil von Publikationen zum Thema „Lernen“ wird mindestens implizit die Vorstellung eines funktionalen, kognitiv orientierten Wissenstransfers weiterhin genährt – oder Lernen recht eindimensional im schulischen Raum verortet. Dabei ist das Gehirn, wenn es lernt, weit davon entfernt, einen isolierten (und noch dazu vordefinierten) Inhalt abzuspeichern: Es entscheidet vielmehr selbst, wie die vielfältigen Anteile einer Situation zu bewerten sind, welche davon ins Bewusstsein gelangen – sowie ob und wie sie dort verankert werden.26 Das Gehirn konstruiert also die darin gespeicherten Inhalte – Lernen ist nicht Transfer sondern ein aktiver und individueller Konstruktionsprozess. Hier reichen sich Neurowissenschaftler und Konstruktivisten die Hand. Und für uns Erlebnispädagogen heißt das wieder einmal: Der Output ist nicht vordefinierbar. Allein schon deshalb brauchen wir die Reflexion! Dort, wo ich in diesem Buch den Begriff „Lernen“ verwende, ist die Aneignung von Kompetenzen jeglicher Art gemeint – gerade auch emotionaler und sozialer Kompetenzen. Dieser Aneignungsprozess geschieht (wie ich noch anreißen werde) häufig „implizit im Nebenher“ d.h. nicht bewusst; weder intendier-, steuer- oder messbar. Der hier verwendete Lernbegriff umfasst daher jene schwer zu beschreibende Fähigkeit ein gutes Lagerfeuer zu machen ebenso wie Prozesse sozialen Lernens oder die Verarbeitung persönlichkeitswirksamer Impulse. Es ist mir ein Anliegen, den Lernbegriff bzgl. seiner Konnotationen kritisch zu überprüfen. Denn das, was wir unter Lernen (und auch unter „Pädagogik“!) verstehen, hat maßgeblichen Einfluss auf unser Menschenbild, unsere Haltung und unser Handeln in pädagogischen Prozessen.
Als Nicht-Gehirnforscher ist es für mich eine Herausforderung, mich mit dem menschlichen Gehirn zu beschäftigen – noch größer aber ist die Herausforderung, die gewonnenen Erkenntnisse lesbar und für die pädagogische Praxis gangbar wiederzugeben. Trotz dem Bemühen um fachliche Richtigkeit werde ich vieles stark vereinfacht darstellen müssen – ich hoffe, die Neurowissenschaftler verzeihen mir dies. Aus diesem Grund werde ich allen Fachwörtern und Sachverhalten, bei denen ich eine tiefgängigere Betrachtung für besonders lohnenswert halte, eine (➔) Pfeilmarkierung voranstellen.
Der neugierige Leser sei darum an dieser Stelle explizit eingeladen, sich mit der Materie via Internetrecherche oder der im Literaturverzeichnis genannten spezifischen Literatur eingehender zu beschäftigen.
Kurzeinführung in das Gehirn
Das menschliche Gehirn ist Teil des Zentralnervensystems. Die verschiedenen Areale und Teile des Gehirns haben einen „modularen“ Charakter – wirken jedoch gerade bei komplexen Denk- oder Handlungsvorgängen in Form eines Netzwerks zusammen. Man kann also Teilfunktionen einem bestimmten Gehirnareal zuordnen – muss aber berücksichtigen, dass häufig nur die Verknüpfung mehrerer Teilfunktionen zu einer echten Konsequenz führt. Bei all dem ist das Gehirn sehr gut darin, sich flexibel umzuorientieren und – z. B. in dem Fall, dass ein Teil nicht mehr so gut funktioniert – bestimmte Funktionen mit Hilfe anderer Areale zu kompensieren. (Das Stichwort hierzu lautet „Funktionale Plastizität“.) Der Neurophysiologe Gerhard Roth beschreibt das Gehirn als in vieler Hinsicht funktional redundant – was uns Erlebnispädagogen natürlich gut gefällt. Das Gehirn ist also mehr als die Summe seiner Bestandteile – deren Vernetzung allerdings ist tragend für die Tatsache, dass wir viele komplizierte Dinge tun, sagen, lernen und machen können.
Zu der hier genannten Vernetzung lässt sich stark vereinfacht sagen, dass alles, was mit unserem Bewusstsein zu tun hat, in unserer Großhirnrinde angekommen ist.27 Die Großhirnrinde ist jene gefurchte äußere Schicht, welche entfernt an eine Walnuss erinnert – das, woran man zuerst denkt, wenn man (als Nicht-Neurowissenschaftler) an ein Gehirn denkt. Was uns bewusst wird, muss sich also irgendwo hier herumtreiben – allerdings gilt das nicht auch umgekehrt! Denn nicht alles, was sich in der Großhirnrinde abspielt, ist uns automatisch auch bewusst! In motorischen und sensorischen Arealen der Großhirnrinde laufen viele Prozesse ab, die unbewusst bleiben. Was übrigens ganz erholsam ist, wenn man mal darüber