Erlebnisse sind nur die Befriedung einer „Abenteuerlust“ oder „Entgrenzung“ der Gesellschaft und dementsprechend als pädagogisch-erzieherische Kategorie nicht zulässig85
Es ist sicher so, dass „das Erlebnis“ als ein „erlebtes Gefühl“ einer wissenschaftlichen Beschreibung schwer zugänglich ist. Der Begriff bzw. der Begriff des „Erlebens“ wurde von Wilhelm Dilthey bereits in den Anfängen der (geistes)wissenschaftlichen Diskussion als ein zentraler eingeführt:
Die Wurzeln der Erlebnispädagogik liegen bei Wilhelm Dilthey (1833–1911) und seiner Begründung einer geisteswissenschaftlichen Psychologie, in der das Erleben der eigenen Zustände und das Verstehen des in der Außenwelt objektivierten Geistes als die beiden Möglichkeiten des Menschseins verstanden wurde, die Wirklichkeit zu erfassen.86
Die oben angesprochene Waltraud Neubert arbeitete aus dem Gesamtwerk von Wilhelm Dilthey für ihre Erlebnispädagogik sieben zentrale Momente für die Bestimmung des Erlebnisses heraus:
Erlebnisbegriff von Wilhelm Dilthey nach Waltraud Neubert:87
Kategoriale Gliederung | Inhaltlicher Kontext |
1. Unmittelbarkeit des Erlebnisses | Erlebnisse sind unmittelbar, da mit ihnen, im Gegensatz zum denkenden Verstehen, das Leben vom Individuum selbst erfasst wird. |
2. Erlebnis als gegliederte Einheit | Das Erlebnis ermöglicht eine solche denkende Aufhellung dadurch, dass es eine gegliederte Einheit darstellt, die als solche sich im gesamten Erlebnisstrom als bedeutsam von anderen Erlebnissen abgrenzt. |
3. Erlebnis als mehrseitiges Spannungsgefüge | 3.1. Totalität In jedem Erlebnis sind alle geistigen Grundrichtungen wirksam. Es kann in ihm auch wie in jedem anderen seelischen Akt die Totalität des Seelenlebens, das Wirken des ganzen, wollend-fühlend-vorstellenden Menschen nachgewiesen werden. Dabei liegt der Nachdruck auf der entscheidenden mächtigen Mitte: „im Gefühl genossene Lebendigkeit“.3.2. Subjekt-Objekt-Bezug Zwar ist für das Subjekt das Erlebnis herausgehoben aus dem Gesamtverlauf des seelischen Geschehens durch seine Intensität im Bewusstsein. Zugleich mit dem seelischen Zustand aber ist im persönlichen Erlebnis in Beziehung auf ihn die Gegenständlichkeit der Welt gegeben.3.3 Allgemeingültigkeit und Individualität Jeder Mensch erlebt etwas Schmerz und Freude in der gleichen Grundart. Darüber hinaus aber sind jedem Erlebnis Züge eigen, die durch Rasse und Geschlecht, Gesellschaftsschicht und Beruf, schließlich durch die individuelle Anlage bedingt sind. |
4. Historischer Charakter des Erlebnisses | Individualität ist nicht etwas Gegebenes, sondern das Seelenleben bildet eine Entwicklung. Umgekehrt schwingt auch alles je Erlebte im Erlebnis mit, so dass jeder einzelne Bewusstseinsakt in seinem Auftreten und seinem Charakter von diesem ganzen erworbenen seelischen Zusammenhang bedingt ist. |
5. Entwicklungsfähigkeit des Erlebnisses | Das Erlebnis lässt sich einmal nach seinen Wurzeln hin verfolgen: denn hat es auch den Charakter des Plötzlichen, so ist es doch das Ergebnis einer inneren Folge von Seelenzuständen, welche nach ihrem Zusammenhang auf das Erlebnis hindrängen und in ihm Höhepunkt und Abschluss haben. |
6. Objektivationsdrang und Erlebnis | Wie alle seelischen Grundfunktionen im Erlebnis ins Spiel treten, so wird auch der ganze seelische Zusammenhang, in den sich unser geistiges Leben gliedert, in ihm durchlaufen. Von der empfindungs- und vorstellungsgemäßen Antwort auf die Reize, über die Wertung im Gefühl als dem wichtigsten Teil, stößt das Erlebnis durch bis zum Willensimpuls, der sich dann in der doppelten Form des Ausdrucks oder der Handlung entladen kann. |
7. Zusammenhang von Leben-Ausdruck-Verstehen | Die schöpferische Kraft des Erlebnisses begründet schließlich den Zusammenhang von Leben-Ausdruck-Verstehen, infolgedessen nun auch auf dem umgekehrten Wege von außen nach innen in jedem Gebilde, in welchem Erlebnis Gestalt geworden ist, das Schaffende, Wertvolle, Handelnde, Sichausdrückende, Sichobjektivierende im Nacherleben wieder flüssig gemacht werden kann. |
Die Diskussion über den Begriff des Erlebnisses ist ein zentrales Moment der „geisteswissenschaftlichen Pädagogik“, ja in der Geisteswissenschaft als solche.
In der modernen Erlebnispädagogik ist allerdings nicht mehr der Begriff des Erlebnisses ein „Leitbegriff“ der wissenschaftlichen Diskussion, sondern die „pragmatischen“ Begriffe wie „Transfer“, „Wirkung“ und „Lernen“. Dabei ist auch nicht mehr die „geisteswissenschaftliche Pädagogik“ die Leitdisziplin, sondern es wird auf eine Fülle anderer Wissenschaftstheorien (kritisch-rationale, empirische Theorie, Systemtheorie, Konstruktivismus etc.) bzw. auf die unterschiedlichsten Bezugswissenschaften (Psychologie, Soziologie), Modelle und Erklärungen zurückgegriffen. Eine genaue Differenzierung und Systematisierung dieser Diskussionsstränge in der modernen erlebnispädagogischen Literatur steht noch aus. Trotzdem gilt es festzuhalten, dass der Begriff „Erlebnis“ noch immer ein, wenn auch manchmal nur historischer Leitbegriff der Erlebnispädagogik ist. Allerdings (ver)schwindet er oft durch Bezeichnungen wie „Outdoor-Training“ oder durch die Umschreibung „handlungsorientierter Ansatz“. Diese Verschiebung ist aus meiner Sicht eine logische Konsequenz aus den oben angeführten Tendenzen bzw. Differenzierungen. Auch in den beiden in diesem Buch verwendeten pädagogischen Wörterbüchern wird der Begriff „Erlebnis“ nicht behandelt. Diese Entwicklung spiegelt aus meiner Sicht auch die Entwicklungen in der wissenschaftlichen Pädagogik wider. Der Begriff des Erlebnisses verweist direkt auf die geisteswissenschaftliche Pädagogik, die ja gerade in den 60er Jahren massiv kritisiert wurde.88 Der Begriff „Training“ dagegen verweist auf die in der kritischen Wende aufkommenden (empirischen) Bezugswissenschaften und eine empirische Studie ist etwas „Handfesteres“ als der „sperrige“, schwer fassbare Begriff des Erlebnisses. Allerdings ermöglicht gerade der Begriff des Erlebnisses einen Anschluss an Begriffe wie „Ganzheitlichkeit“ bzw. ist anschlussfähig an „spirituelle“ Ansätze. Im Gegensatz z.B. zum Begriff des Trainings hebt er die hohe „emotionale Qualität“ von Erlebnispädagogik hervor:
Unter einem Erlebnis soll ein besonderes Ereignis aus subjektiver Sicht des Erlebenden verstanden werden, das einen hohen Erinnerungsgrad aufweist.89
2.1.5 Unterscheidung von „Erleben“ und „Erlebnis“ nach Schott
Bei einem Erlebnis handelt es sich also um ein „besonderes Ereignis aus subjektiver Sicht“. Ist „das Besondere“ nicht gegeben, handelt es sich also um ein „Ereignis“, und wird dementsprechend „erlebt“. Dies ist eine bedeutsame Unterscheidung, wenn auch „Erlebnis“ und „Erleben“ in der Literatur oft synonym verwendet werden. Thomas Schott hat dagegen, in Fortführung von Dilthey und Neubert, die Unterschiede bzw. die unterschiedliche Struktur und Qualitäten, auch in ihrer historischen Entwicklung, sehr genau untersucht und damit den Begriff auch wissenschaftlich fassbar gemacht. Dabei unterscheidet er zwischen „Erleben“, siehe Abschnitt 2.3, ein Begriff der eher dem handlungsorientierten Ansatz zugeordnet werden kann und dem Begriff „Erlebnis“90:
Zentrale und periphere Momente von „Erleben“