Dewey ist also mit seinem „handlungs- und erfahrungsorientierten“ Ansatz ein wesentlicher „Theoretiker“ der modernen Erlebnispädagogik. Damit kann man aber die moderne Erlebnispädagogik in die Nähe des so genannten „Pragmatismus“ rücken:101
Pragmatismus: (griech. pragma Handeln, Tatsache, Wirklichkeit; engl. pragmatism). Von dem amerikanischen Philosophen und Mathematiker C.S. Peirce am Ende des 19. Jahrhunderts begründete, handlungstheoretische Auffassung von Wissenschaft, die danach fragt, was wissenschaftliche Theorien für praktische, sachbezogene, soziale und sprachliche Handlungsprozesse in konkreten geschichtlichen Erfahrungsfeldern bedeuten. Darauf begründete J. Dewey in Amerika seine Pädagogik des Pragmatismus, die von der Bedeutung des Handelns und der Erfahrung ausgeht. Demokratie ist für Dewey gemeinschaftliches Leben und Schule soll als Modell den Grund dafür legen. Erziehung und Unterricht bewirken seiner Ansicht nach in den Interaktionsprozessen und in der handelnden Auseinandersetzung mit Natur, Gesellschaft und Kultur beim Schüler einen kontinuierlichen Erfahrungsaufbau, der im Verlauf der Erziehungsprozesse zur Ich-Identität hinführt. Die Theorie des Projektunterrichts von J. Dewey und W.H. Patrick zeigt die pädagogische Umsetzung der Philosophie des Pragmatismus.102
Für die deutschsprachige Rezeption sei allerdings darauf hingewiesen, dass dieser Einfluss von Dewey auf die moderne Erlebnispädagogik oft nicht explizit erwähnt oder erkannt wird, sondern sozusagen „mitschwingt“. So wird Hahn mit seiner „Erlebnistherapie“ definitiv (und aus meiner Sicht auf Grund seiner enormen organisatorischen Leistung auch zu Recht) als „Urvater“ der Erlebnispädagogik bezeichnet und Deweys Einfluss, vor allem auf die moderne Erlebnispädagogik, meist nicht genau gekennzeichnet:
Im deutschsprachigen Raum war Dewey bis heute kaum im pädagogischen Blickfeld, da sein pädagogischer Pragmatismus wenig Anknüpfungspunkte zur deutschen, traditionellen idealistischen Erziehungsauffassung fand, doch sein Theorem „Learning by doing“ erlangte Bekanntheitsgrad weit über Wissenschafts- oder Wirtschaftsgemeinschaften hinaus. Bedeutsame Spuren des Wirkens von Dewey finden sich heute aber noch in anderen Bereichen wieder, sind jedoch nicht immer so deutlich zu erkennen wie jene, die Deweys Überlegungen in der amerikanischen „Outdoor-Szene“ hinterlassen haben.103
Deweys pädagogischer Pragmatismus hatte in der deutschen, idealistisch geprägten Erziehungswissenschaft seit jeher einen schweren Stand. Schon 1915 polemisierte Eduard Spaner in einem Brief an Kerschensteiner über Deweys „Küchen- und Handwerksutilitarismus“. Der Münchener Stadtschulrat und spätere Universitätsprofessor Kerschensteiner schuf in dieser Zeit sein Modell der „Arbeitsschule“ und ließ sich als einer der wenigen deutschen Reformpädagogen von Dewey inspirieren (Anmerkung des Verf.: Kerscheinsteiner wiederum hatte Einfluss auf Hahn!).104
Die große Bedeutung von Dewey für die moderne Erlebnispädagogik resultiert aus seinen Überlegungen zum „Erfahrungslernen“. Wie schon erwähnt, ergibt sich damit ein zweiter Argumentationsstrang in der erlebnispädagogischen Theorie. An Stelle des zentralen „Erlebnisbegriffs“ treten die Begriffe „Handlung“, „Erleben“ und „Erfahrung“. Deweys „Learning by doing“ ist als eine „Methode der denkenden Erfahrung“105 zu verstehen. Das bezieht sich auf die doppelte Rolle von Erfahrung:
zum einen erwirbt man Erfahrung um zu Handeln
zum anderen erwirbt man Erfahrung durch Handlungen
Neben diesen zentralen gegenseitigen Verweischarakter der neuen Begriffe „Handlung“ und „Erfahrung“ treten als weitere wesentliche Leitbegriffe „Prozess“ und „Reflexion“. Dewey stellt dazu fest:
Durch Erfahrung lernen heißt, das was wir den Dingen tun, und das was wir von ihnen erleiden, nach rückwärts und vorwärts miteinander in Verbindung bringen.106
Gerade dieses Vorwärts und Rückwärts drückt das Prozesshafte und Reflexive aus. Dies bedeutet:
dass aus einer Handlung offenbar nur mit Hilfe einer bewussten, denkerischen Durchdringung eine Erfahrung gewonnen werden kann - durch Reflexion also.
dass dieses Vorwärts und Rückwärts immer prozesshaft ist, d.h. Prozessdenken statt „Ereignis- oder Erfolgsfixierung“.107
In seiner „Theory of Inquiry“ lassen sich fünf Phasen festhalten:
Somit treten vier neue Begriffe an die Stelle des Leitbegriffs „Erlebnis“:
Handlung
Erfahrung
Prozess
Reflexion
Den Zusammenhang beschreibt Dewey wie folgt:
Er ging von der Annahme aus, dass Handeln die erste und ursprüngliche Form der Erfahrungsbildung darstellt und das durch Handeln gewonnene Wissen das erste und ursprüngliche Wissen des Menschen ausmacht. (…) Das Wiederentdecken von Denken, Erfahrung und Handlung kann als zentrales Kennzeichen der Pädagogik Deweys gelten. Neben Rousseau kann somit auch Deweys Ansatz als erziehungstheoretische Grundlage für erfahrungsorientiertes Lernen und das Lernen durch Erlebnisse herangezogen werden.108
2.2.1 Erlebnispädagogischer und handlungsorientierter Ansatz
Mit Hahn und Dewey bzw. mit dem Begriff „Erlebnis“ auf der einen Seite und den Begriffen „Erfahrung“ und „Handlung“ auf der anderen Seite sind die zwei unterschiedlichen Argumentationsstränge der erlebnispädagogischen Theorie eingeführt. Im (wissenschaftlichen) Diskurs der modernen Erlebnispädagogik werden allerdings oft beide „miteinander“ diskutiert. Ebenso werden die Begriffe „Erlebnis“ und „Erleben“ synonym verwendet, was dementsprechend zu argumentativen Verwirrungen führt, denn im Prinzip handelt es sich um zwei unterschiedliche Ansätze mit unterschiedlichen Traditionen und Leitbegriffen:
Der „erlebnispädagogische Ansatz“ mit dem zentralen Leitbegriff des „Erlebnisses“, auf Hahn, Neubert und Dilthey beruhend.
„der handlungs- und erfahrungsorientierte“ Ansatz mit den Leitbegriffen „Handlung“, „Erfahrung“ bzw. „Erleben“, beruhend auf Dewey und die Pragmatiker.
Zur Differenzierung dieser beiden Ansätze verweise ich noch einmal auf die in Abschnitt 2.1.5 vorgenommene Unterscheidung von „Erleben“ und „Erlebnis“. Werden diese beiden Begriffe, wie schon oft erwähnt, häufig synonym verwendet, handelt es sich doch, wie Schott eindrucksvoll dargestellt hat, um zwei in ihrem Wesen unterschiedliche Begriffe:
Erleben