Ganz im Sinne der obigen Beschreibung ist die Erlebnistherapie des „Urvaters der Erlebnispädagogik“, Kurt Hahn, zu verstehen. Dieser diagnostizierte „Verfallserscheinungen“ der Jugend und arbeitete als Behandlungsplan seine „Erlebnistherapie“ aus (siehe dazu genauer Kapitel 4).45 Dabei diente das Erlebnis „als zentrales pädagogisches Mittel“46. Es stellt allerdings keine inszenierte Einzelerscheinung dar, „sondern das Endprodukt eines pädagogisch weitgehend vorbedachten Planes“. Aufgrund dieser pädagogisch gestalteten Erlebnisse entstehen bei den Jugendlichen jene „unauslöschlichen Erinnerungen“, die Hahn als „Kraftquelle“ für entscheidende Augenblicke im späteren Leben ansieht.47 In diesem Zusammenhang sind Erlebnisse also eher als „heilsame Erinnerungsbilder“48 zu verstehen und stehen somit in Bezug zu einer „Krankheitsheilung“.49 Dieser Heilungsaspekt ist fest verbunden mit der Intensitätsqualität des Erlebnisses. Denn in Bezug auf obige Definition von Erlebnis ist dessen subjektive Intensität von entscheidender Bedeutung für seinen „Erinnerungsgrad“ und dementsprechend für die Wirkung der „heilsamen Erinnerungsbilder“.50 Die Erlebnistherapie stellt im Grund einen, den vier von Hahn postulierten Verfallserscheinungen (ausführlich in Abschnitt 4.3 behandelten) entgegenwirkenden, aktivierenden Behandlungsplan der „kranken“ Jugendlichen dar, dessen wesentlichster „Wirkstoff“ das Erlebnis ist:
When you are passive you forget; when you are active you remember.51
Im Rahmen dieses Behandlungsplans wird versucht, die Wahrscheinlichkeit für die Erlebnismöglichkeiten zu erhöhen und diese Erlebnisse immunisieren sozusagen als „heilsame Erinnerungsbilder“. Diese heilsamen Bilder haben dementsprechend auch prophylaktische Wirkung, sie können sozusagen bei jedem neuen „Verfallsmoment“ wieder aktiviert werden und entfalten dementsprechend auch später wieder ihre heilende Wirkung.
Streng genommen stellt allerdings die Erlebnistherapie von Kurt Hahn natürlich keine „Therapie“ im Sinne der heute existierenden psychotherapeutischen Therapieformen dar52. Dies schon alleine deswegen, weil bei Kurt Hahn immer auch die Erziehung, somit die Pädagogik, im Vordergrund stand. Seine Umsetzungen fanden zunächst im Rahmen von Internatsschulen wie Schloss Salem statt und waren immer erzieherisch intendiert. Dementsprechend ist es auch durchaus verständlich, dass Kurt Hahn als Urvater der „ErlebnisPädagogik“ gilt und der Begriff der Erlebnistherapie von Kurt Hahn auch in der Fachliteratur meistens als Erlebnispädagogik bezeichnet wird:
In diesem Sinne ist bei Hahn Erlebnistherapie zu verstehen – faktisch handelte es sich um ein Erziehungsprogramm für die Jugend, also um Pädagogik.53
Hahns „Erlebnistherapie“ wandelte sich im Laufe der Zeit zu einer Erlebnispädagogik. (…) Hahns Erlebnistherapie (…) hatte eine bestimmte Sozietät im Auge (…). die Jugend. So gesehen war Hahns Erlebnistherapie immer schon eine Erlebnispädagogik 54
Das zeitliche Auftauchen des Begriffs Erlebnistherapie im Sprachgebrauch ist nicht genau zu datieren. Das Auftreten des Begriffs der Erlebnistherapie in den Lexika wird von Silke Bonarius auf das Jahr 1915 datiert, allerdings enthält sie sich jedes bibliographischen Nachweises.55 Bei Heckmair und Michl wird auf eine Quelle verwiesen, in der davon die Rede ist, dass „es seit 1910 die Erlebnispädagogik gibt“, aber auch hier fehlen die eindeutigen bibliographischen Zitate56. Für 1925 ist auf jeden Fall die „Erstnennung“ des Begriffs „Erlebnispädagogik“ nachgewiesen (siehe Abschnitt 2.2).
2.1.1 Einschub: Der psychotherapeutische Erlebnistherapiebegriff
Psychotherapie (griech. psyche Seele, therapeia Pflege, Heilung): Seelenheilkunde, insbesondere zur Behandlung von Neurosen und psychosomatischen Erkrankungen. Wendet unterschiedliche Verfahren an, u.a. Psychoanalyse, Gruppentherapie. In jedem Falle bedarf es einer speziellen Qualifikation und Zulassung des Therapeuten.57
Im Laufe der Nachkriegszeit und bis in die 70er Jahre entwickelten sich neue, in Abgrenzung zur Psychoanalyse und zum Behaviorismus, psychologische Ansätze, die unter dem Sammelbegriff „Humanistische Psychologie“ zusammengefasst wurden. Im Rahmen dieser Entwicklung entstanden auch neue psychotherapeutische Therapieformen. Besonders eine Person ist dabei zu benennen: Ruth Cohn, die Begründerin der so genannten Themenzentrierten Interaktion (TZI). Sie stellt in ihren Schriften auch eine namentliche Verbindung zwischen diesem humanistischen Ansatz und der Erlebnistherapie her:
Ich suchte nach einem Oberbegriff für die verschiedenen Methoden und entschied mich, mit einigem Vorbehalt, für das Wort „Erlebnistherapie“ bzw. „Experimentalismus“. Es fiel mir kein anderer Begriff ein, mit dem ich Gestalttherapie, Biogenetik, Tranksaktionsanalyse, Psychodrama, Erlebnistherapie und -pädagogik und TZI zusammenfassen konnte.58
Dabei gibt es für Ruth Cohn einen starken Zusammenhang zwischen Therapie und Pädagogik:
Pädagogik ist die Kunst, Therapien antizipierend zu ersetzen.59
Dabei sind es besonders drei Komponenten, die die Verbindung zwischen Erlebnistherapie und Erlebnispädagogik herstellen:
der Erlebnisbegriff
der „handlungsorientierte Ansatz“
die verwendeten, oft identen Methoden
Diese Zusammenhänge klar darzustellen würde den Umfang dieser Arbeit bei weitem sprengen, aber einige Hinweise seien gegeben. So setzte sich Fritz Perls, der Wegbereiter der Gestalttherapie, intensiv mit Wilhelm Dilthey und Bergson auseinander; zwei Persönlichkeiten die sich sehr mit dem Begriff des Erlebnisses“ beschäftigten und auch für die Erlebnispädagogik von großer Bedeutung sind.60 Jakob Moreno, dem Begründer des Psychodramas, wird die Aussage: „Handeln ist heilender als Reden“ zugeschrieben61 und dementsprechend wird auch von „handlungsorientierten Therapieformen“ gesprochen.62 Als Methoden der Gestalttherapie werden Rollen- und Interaktionsspiele genannt, Methoden, die in der Erlebnispädagogik ebenso präsent sind.63
Die Sammelbezeichnung Erlebnistherapie für die „humanistisch-psychologischen Therapieformen“ setzte sich nicht durch, zeigt aber die offensichtliche nahe Verwandtschaft dieser beiden Begriffe. Allerdings, wie Ruth Cohn so treffend formulierte, setzt die Pädagogik vor der Therapie an und handelt in einem anderen Setting. Die vier wesentlichsten Unterscheidungsmerkmale zwischen Therapie und Pädagogik sind aus meiner Sicht: