An dieser Leerstelle hilft Reflexion, vorab auch geschriebene. In ihrem Lernjournal liest die frustrierte Studentin nun nach, wie sie vor einigen Monaten über Sachverhalte und Bezüge gestaunt, wie sie nach Antworten auf Fragen gesucht hat, die sie nun im Schlaf zu beantworten vermag. Das persönliche Wachstum zu konstatieren, kann Lust bereiten.
Ebenso hilft Reflektieren, den Lernprozess selber zu steuern. Es hilft, wenn bereits beim Start der Lernstoff, der normierte Lernprozess mit persönlichen (häufig nicht sachlastig, sondern emotional ausgelösten) Fragen und Zweifeln verbunden und zum Ausdruck gebracht wird. Reflexion macht das unpersönliche Stoffvakuum zu etwas Eigenem, färbt die Inhalte eines anonymen Lernsystems (die mitunter in ihrer Sinnhaftigkeit schwer ergründbar sind) subjektiv ein. Durch diese Subjektivierung erlebt die Lernende sich selber, und zwar positiv, dies wird als Lustgewinn erlebt.
Weiter hilft reflektierende Dokumentation eines durchweg inneren Prozesses, den komplexen, nicht ganz fassbaren inneren Prozess sichtbar zu machen. Das Blackbox-Phänomen von Lernen verliert dadurch von seiner Dunkelheit. Es zeigen sich Schrittchen, Fragmentchen, Zwischenprodukte und Lernstufen, und das motiviert, macht Lust. Persönlichen Fortschritt zu erleben, kann Lust bereiten.
Demnach lässt sich das Lust-Erleben beim Reflektieren in zwei Dimensionen beschreiben:
▸Lust-Dimension 1: Reflexion macht Stofferfassung zu etwas Eigenem
Lernen – das Eintreten in neue geistige Felder – wird durch Reflexion zum Eigenen. Reflektieren verbindet den Lernprozess in einem unpersönlichen Studiengang durch persönliche Dokumentation mit eigenen Fragen und Eingrenzungen. Dadurch erlebt das lernende Individuum den Wissenszuwachs als etwas Eigenes. Das ist zentral. Denn Lernen geschieht nur, wenn wir persönlich involviert sind. Persönliches Involviertsein kann (muss aber nicht) Lust bereiten.
▸Lust-Dimension 2: Reflexion ermöglicht die Sicht auf Teilschritte
Reflexion segmentiert komplexe Lernprozesse und zeigt Teilschritte, Teilerfolge. Reflektieren gibt im Vakuum des Lernprozesses, in dem das Gelernte nicht immer wahrgenommen wird, eine Orientierung. Reflektieren macht – ähnlich wie ein Messverfahren bei einem Suchtentzug oder einer Verhaltenstherapie – einzelne Lernschritte und -fortschritte wahrnehmbar und sensibilisiert das lernende Individuum somit auf den Lernzuwachs. Der Blick auf die Veränderung, das Wachstum, das Persönliche ist ein befriedigender. Darum Lust.
Reflexion und Zwang
Im formellen Lernkontext erlebt ein Lernender Reflexion mitunter als Zwang. Dies ist ein zentraler Unterschied zu reflektierenden Tätigkeiten im informellen Lernen. Gerade wenn die geschriebene Reflexion später abgegeben werden muss und von einer Dozierenden bewertet wird, kann die Aufgabe, schriftlich reflektieren zu müssen, als Zwang wirken (vgl. auch den Beitrag von Honegger & Beglinger in diesem Band). Weil die bewertende Person Einblick in die Teilschritte hat, fühlt sich der Schreibende unter dem Druck, beweisen zu müssen, dass er seinen Lernprozess hinter sich und erfolgreich überstanden hat. An die Stelle der kritisch fragenden, subjektiv involvierten Erkenntnis tritt ein erzwungenes Bekenntnis, keine Probleme mehr zu haben, alle Lernhürden genommen zu haben. Wird Reflexion verordnet, verwandelt sich das personalisierende und lustvoll wirkende Element von Reflexion und wird als Unlust, als Zwang erlebt.
Indem Studiengänge eine große Quantität geschriebener Reflexionen verlangen, bewirken sie in Studierenden bisweilen paradoxerweise das, was sie durch die Reflexion eigentlich verhindern wollten. Lernende erleben aufgrund der Vielzahl von schriftlichen Leistungsnachweisen, des Leistungsdrucks und des Produktionsdrucks Reflexionen nicht als hilfreiches persönliches Abbilden von inneren Prozessen oder innerem Suchen. Weil Reflexion Teil der Lernaufgabe ist, in der die Dozierenden die innere Involviertheit der Studierenden überprüfen, erfahren die Lernenden Reflexionen eher als erzwungene »Testimonials«, in denen sie – um den Leistungsnachweis, die ECTS-Punkte zu erhalten – bekunden müssen, persönlich involviert zu sein.
Der Zwang zur Reflexion führt somit zu einer »Anti-Reflexion«. Anstatt wahrer Erkenntnisse werden Bekenntnisse geschrieben, die wenig mit inneren Prozessen zu tun haben.
Die Dozierenden ihrerseits gewöhnen sich daran, Bekenntnisse und nicht vielleicht auch kritische, subjektive Irrwege, Zweifel, wir nennen sie jetzt mal Erkenntnisse, zu lesen. Durch diese Verfremdung entsteht im Studienkontext eine spezifische Textform von Reflexionen. Solche Texte sind randvoll mit Hinweisen dazu, dass »wirklich viel gelernt wurde und es unglaublich spannend und interessant war und alles, was folgen wird, mit großer Freude und Lernlust erwartet wird«.
Ambivalenz zwischen Lust und Zwang
Die Ambivalenz zwischen Lust und Zwang, die mit jeder Reflexion verbunden ist, lässt sich nicht auflösen. Drei didaktische Paradigmen für erfolgreiches Reflektieren beim Schreiben könnten so lauten:
▸Dozierende wissen, dass Reflexion schnell als Zwang erlebt wird. Schreibenmüssen kann das Erleben von Zwang verstärken. Das muss nicht negativ sein.
▸Dozierende veranlassen lustvoll erlebte Reflexion, indem sie diese freiwillig empfehlen. Schreibendürfen kann lustvoll erlebt werden.
▸Reflexion und Schreiben dosiert und gezielt einsetzen (vgl. den Beitrag von Keller in diesem Band).
Tradition zwischen Bekenntnis und Erkenntnis
Das Bekenntnis müssen wir ablegen, und die Erkenntnis dürfen wir verkünden. Reflektieren übers Lernen besteht darin, auf eigene Lücken oder fehlende Kompetenzen hinzuweisen (Bekenntnis). Erkenntnisse sind dann Teil des Lernens, wenn wir auf gefüllte Lücken oder neu erworbene Einsichten oder Kompetenzen hinweisen. Das Schreiben kennt sowohl die rhetorische Tradition des Bekenntnisses als auch diejenige der Erkenntnis. Beide Zugänge können erfolgreich sein, aber sie können auch zementieren und sowohl Lehrenden als auch Lernenden als rhetorische Hülsen dienen.
▸Dozierende wissen um den Unterschied zwischen Bekenntnis und Erkenntnis und arbeiten mit beiden Anlagen.
▸Studierende üben sich in beiden Formen. Bekenntnisse verfassen sie eher für bewertende Dozierende, Erkenntnisse für Peers (vgl. den Beitrag von Zimmermann & Rickert in diesem Band).
Bilanz der Dimensionen des schriftlichen Reflektierens
Abschließend seien die Dimensionen des schriftlichen Reflektierens nochmals in der Übersicht aufgezählt:
▸Reflektiert wird im Studium, um zu lernen und um bewusstes Reflektieren für ein Weiterlernen nach dem Studium zu etablieren.
▸Schreiben und Reflektieren intensiviert das Erleben von Lust und Zwang beim Lernen, weil Schreiben in formellen Kontexten die innere Affektwahrnehmung verstärkt (vgl. Honegger 2015).
▸Reflektieren geht auch ohne Schreiben oder anders (vgl. die Beiträge von Keller sowie Honegger & Beglinger und Nyffenegger in diesem Band).
▸Schriftliche Lernaufgaben, die in einem Zuviel des Schreibens im Studium zum Reflektieren anleiten, können auf vier Aspekte hin überprüft werden:
(1)Ist ein Publikum für die Reflexion, sind Leser/-innen nötig, um zu lernen?
(2)Wenn ja, sollen es Peers oder Dozierende sein?
(3)Ist eine Beurteilung/Bewertung der Reflexion nötig, um zu lernen?
(4)Ist erzwungenes Schreiben fürs effektive Reflektieren nötig, um zu lernen?
Beck, Erwin, Titus Guldimann und Michael Zutavern. 2000. »Eigenständiges Lernen fördern: Metakognition