Ermessensspielräume lassen sich definitionsgemäß niemals vollständig vermeiden. Die Gestaltungsspielräume der Steuerpflichtigen lassen sich jedoch einschränken, wenn bei Ermessensspielräumen eine Pflicht zur Angabe der zugrunde gelegten Daten und Annahmen gefordert wird. Darüber hinaus ist zu verlangen, dass Ermessensspielräume in der Handelsbilanz und in der Steuerbilanz in gleicher Weise ausgelegt werden. Eine abweichende Auslegung ist als willkürlich und damit als unzulässig anzusehen.
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Entgegen diesen systematischen Überlegungen wird die Neuregelung des § 5 Abs. 1 S. 1 EStG von der Finanzverwaltung im Sinne einer materiellen Maßgeblichkeit interpretiert. Diese Aussage wird zwar nicht explizit formuliert. Sie leitet sich aber implizit daraus ab, dass in dem BMF-Schreiben zu den Auswirkungen des Bilanzrechtsmodernisierungsgesetzes[2] ausgeführt wird, dass Wahlrechte, die sich aus einer eigenständigen steuerlichen Regelung ergeben, unabhängig von der Vorgehensweise im handelsrechtlichen Jahresabschluss ausgeübt werden können. Diese Ausnahme vom Maßgeblichkeitsprinzip gilt nach Ansicht der Finanzverwaltung generell, nicht nur für die Regelungen, die einen speziellen steuerlichen Hintergrund aufweisen (Sonderabschreibungen, erhöhte Absetzungen, Bewertungsabschläge und steuerfreie Rücklagen sowie im Umwandlungssteuergesetz enthaltene Wahlrechte). Der Umfang der in der Steuerbilanz eigenständig auszuübenden Wahlrechte geht sehr weit, weil sich steuerliche Wahlrechte nicht nur aus dem Gesetz (insbesondere EStG) ergeben können, sondern nach der Auffassung der Finanzverwaltung auch aus Verwaltungsvorschriften, wie Richtlinien (insbesondere EStR) und BMF-Schreiben.[3]
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Ergebnis: Folgt man der Auffassung der Finanzverwaltung, lässt sich der Inhalt des Maßgeblichkeitsprinzips seit der Änderung des § 5 Abs. 1 S. 1 EStG durch das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz wie folgt beschreiben:
Abb. 3: Inhalt des Maßgeblichkeitsprinzips
Der Handelsbilanzansatz ist für die steuerliche Gewinnermittlung dem Grunde und der Höhe nach zu übernehmen, außer | § 5 Abs. 1 S. 1 HS 1 EStG |
• es besteht eine steuerliche Regelung, die für die Bilanzierung oder die Bewertung eine abweichende Regelung vorsieht oder | spezielle steuerliche Norm geht vor |
• in der Handelsbilanz besteht ein Bilanzierungswahlrecht und im Steuerrecht ist keine Regelung vorgesehen oder | Einschränkung der Maßgeblichkeit durch die Finanzrechtsprechung |
• für die Steuerbilanz besteht nach dem Gesetz oder einer Verwaltungsanweisung ein Wahlrecht und dieses steuerliche Wahlrecht wird so ausgeübt, dass der Ansatz in der Steuerbilanz vom in der Handelsbilanz angesetzten Wert abweicht. | § 5 Abs. 1 S. 1 HS 2 EStG |
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Von einer Maßgeblichkeit wird gesprochen, wenn für die steuerliche Gewinnermittlung der Wertansatz aus der Handelsbilanz zu übernehmen ist. Insoweit stimmen Handels- und Steuerbilanz überein. Von der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz bestehen jedoch Ausnahmen. Bei den Ausnahmen ist danach zu differenzieren, inwieweit Bilanzierung und Bewertung im Rahmen der handels- und steuerrechtlichen Rechnungslegung übereinstimmen können bzw voneinander abweichen müssen. In diesem Buch wird folgende Dreiteilung vorgenommen:
– | Zu einer Einschränkung der Maßgeblichkeit kommt es, wenn aufgrund von Bilanzierungs- oder Bewertungswahlrechten oder aufgrund von Ermessensspielräumen nach den handelsrechtlichen Regelungen mehrere Ansätze zulässig sind und in der Steuerbilanz ein bestimmter Wert vorgeschrieben ist. Liegt eine Einschränkung der Maßgeblichkeit vor, können Handels- und Steuerbilanz übereinstimmen, sie müssen es aber nicht. |
– | Eine Durchbrechung der Maßgeblichkeit ist dadurch gekennzeichnet, dass eine steuerrechtliche Norm einen Ansatz erfordert, der mit der handelsrechtlichen Regelung nicht vereinbar ist. Bei einer Durchbrechung der Maßgeblichkeit weichen Handels- und Steuerbilanz zwingend voneinander ab. |
– | Besteht für die Steuerbilanz ein Wahlrecht, kann dieses steuerliche Wahlrecht bei Aufstellung der Steuerbilanz eigenständig ausgeübt werden. Die handelsrechtliche Behandlung dieses Sachverhaltes ist für die steuerliche Gewinnermittlung nicht bindend. Insoweit besteht keine Maßgeblichkeit. In Abhängigkeit davon, wie das Wahlrecht bei der Aufstellung der Steuerbilanz ausgeübt wird, können die beiden Bilanzen den gleichen Wert aufweisen, sie müssen es aber nicht. Für die Besteuerung von Unternehmen gelten in Teilbereichen spezielle Regelungen, um im Zusammenhang mit Investitionsförderungsmaßnahmen, der Besteuerung von Personen- und Kapitalgesellschaften, der Abgrenzung des betrieblichen Bereichs von der privaten Sphäre sowie zur Vermeidung einer internationalen Doppelbesteuerung bestimmte Zielsetzungen zu erreichen. Diese speziellen steuerlichen Vorschriften gehen den handelsrechtlichen Gewinnermittlungsgrundsätzen vor, dh insoweit besteht gleichfalls keine Maßgeblichkeit. |
Der Unterschied zwischen der ersten und der dritten Fallgruppe besteht darin, dass bei der ersten Fallgruppe die handelsrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten weiter gehen als in der Steuerbilanz (Einschränkung der Maßgeblichkeit), während bei der dritten Fallgruppe sich die Wahlrechte aus steuerlichen Regelungen ergeben, die nach Ansicht der Finanzverwaltung unabhängig von der Vorgehensweise im Rahmen der handelsrechtlichen Rechnungslegung ausgeübt werden können (Wahlrechtsausübung ohne Bindung an die Handelsbilanz) oder weil für das Steuerrecht spezielle Regelungen gelten, die so in der handelsrechtlichen Rechnungslegung nicht bestehen.
Beispiel 1:
Für die Bewertung eines Wirtschaftsguts besteht handelsrechtlich ein Wahlrecht. Als Untergrenze ist ein Wert von 10 000 € anzusetzen. Die Obergrenze beläuft sich auf 12 000 €. Zusätzlich sind Zwischenwerte zulässig.
Wird für die Steuerbilanz eine Bewertung mit 11 500 € vorgeschrieben, wird die Maßgeblichkeit eingeschränkt. Die steuerliche Regelung sieht eine Bewertung vor, die innerhalb der im Handelsrecht gewährten Bandbreite liegt. In Abhängigkeit von der Ausübung des Bewertungswahlrechts in der Handelsbilanz stimmen Handels- und Steuerbilanz überein (Wert in der Handelsbilanz 11 500 €) oder weichen voneinander ab (bei jeder anderen Ausübung des handelsbilanziellen Wahlrechts).
Beispiel 2:
Wird in der Handelsbilanz ein Wert von 12 000 € vorgegeben und ist für die Steuerbilanz eine Bewertung mit 13 000 € verpflichtend, kommt es zu einer Durchbrechung der Maßgeblichkeit. Handels- und Steuerbilanz können aufgrund von zwei sich widersprechenden, verbindlichen Regelungen nicht übereinstimmen.
Beispiel 3:
Ist in der Handelsbilanz ein Wirtschaftsgut aufgrund einer verbindlichen Regelung mit 12 000 € zu bewerten, während für die Steuerbilanz aufgrund einer Sonderabschreibung eine Bewertung zwischen 8 000 und 12 000 € zulässig ist, besteht keine Maßgeblichkeit. Wird in der Steuerbilanz auf die Inanspruchnahme der Sonderabschreibung verzichtet, stimmen Handels- und Steuerbilanz überein. Zu einer Abweichung kommt es, wenn in der Steuerbilanz das spezielle steuerbilanzielle Wahlrecht ausgeübt wird.