Zum einen kann die Anwendbarkeit einer Legaldefinition unter einer „aufschiebenden Bedingung“ stehen. Dies ist etwa der Fall bei § 11 Abs. 3 StGB, der die Erweiterung des Verständnisses des Schriftenbegriffs auf Ton- und Bildträger, Datenspeicher, Abbildungen und andere Darstellungen davon abhängig macht, dass die jeweilige Vorschrift auf diesen Absatz verweist.
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Existiert keine solche Bedingung oder ist diese erfüllt, kann die Anwendbarkeit einer Legaldefinition auch im Nachhinein noch ausgeschlossen werden. Dies kann zum einen gleichsam „von innen“ heraus geschehen, indem die Legaldefinition ihren Anwendungsbereich selbst beschränkt. Regelmäßig geschieht dies mit dem Zusatz „im Sinne dieses Gesetzes“ o.Ä. (vgl. z.B. § 3 Abs. 1 KrWG). In diesem Fall kann die Auslegung desselben Begriffs in einem anderen Gesetz (z.B. § 326 StGB)[336] grundsätzlich autonom erfolgen, ohne dass der Rechtsanwender sich damit dem Vorwurf aussetzt, sich über das Recht zu erheben oder willkürlich zu handeln. Das schließt allerdings nicht aus, den Inhalt der Legaldefinition zur Auslegung des Begriffs heranzuziehen.[337]
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Zudem kann eine Legaldefinition „von außen“ verdrängt werden, indem ein bestimmtes Gesetz oder Teilrechtsgebiet seinerseits eine speziellere Legaldefinition vorhält.[338] Dies geschieht etwa in § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB, wo gegenüber dem allgemeinen Rechtswidrigkeitsbegriff ein spezieller Sprachgebrauch nur für das Strafgesetzbuch (und grds. auch das Nebenstrafrecht,[339] vgl. Art. 1 EGStGB) geprägt wird.
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Über diese Begrenzungen hinaus gibt es hingegen keinen Grund, die Geltung einer Legaldefinition für die gesamte Rechtsordnung anzuzweifeln und sie nur auf das Gesetz, das sie enthält, oder ein bestimmtes Teilrechtsgebiet zu beschränken.[340] § 12 Abs. 1 StGB etwa weist keine der beiden erstgenannten Beschränkungen auf. Die darin enthaltende Definition des Begriffs „Verbrechen“ ist demnach – soweit nichts Spezielleres vorgeschrieben ist (wie z.B. im Kontext des Begriffs „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“) – der gesamten Rechtsordnung zugrunde zu legen. Sie findet etwa Anwendung in § 74 Abs. 1 S. 1 GVG[341], § 10 Abs. 1 Nr. 1 lit. a UZwG[342] und § 52 Abs. 1 SGB V[343].
(c) Wertungseinheit
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Schließlich verbleibt die Frage, ob einer einheitlichen Rechtsordnung auch einheitliche Wertungen zugrunde liegen (müssen), also auch über die Freiheit von „echten“ Widersprüchen hinaus eine innere Konsequenz der Rechtssätze besteht. So hat etwa das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, „daß das Verfassungsrecht nicht nur aus den einzelnen Sätzen der geschriebenen Verfassung besteht, sondern auch aus gewissen sie verbindenden, innerlich zusammenhaltenden allgemeinen Grundsätzen und Leitideen, die der Verfassungsgesetzgeber, weil sie das vorverfassungsmäßige Gesamtbild geprägt haben, von dem er ausgegangen ist, nicht in einem besonderen Rechtssatz konkretisiert hat.“[344] Dieser Gedanke könnte sich auch auf die Gesamtrechtsordnung erstrecken lassen.
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Eine sorgfältige Differenzierung der hier potenziell auftretenden Widersprüche hat Engisch herausgearbeitet. Er unterscheidet hierbei Wertungswidersprüche, teleologische Widersprüche und Prinzipienwidersprüche, wobei die Übergänge zwischen ihnen teilweise fließend sind.[345]
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Als Beispiele für Wertungswidersprüche nennt Engisch etwa Fälle, in denen ein schwereres Delikt früher verjährt als ein leichteres oder dass das Strafminimum bei früheren Kindsmordtatbestand gem. § 217 StGB a.F. höher lag als beim normalen Totschlag, demgegenüber der Kindsmord eigentlich eine Privilegierung darstellen sollte.[346] Diese Fälle sind von den „echten Normwidersprüchen“ zu unterscheiden,[347] bei denen der Text verschiedener Normen sich gar nicht vereinbaren lässt, auch wenn eine Abgrenzung im Einzelfall schwierig sein kann.[348] Vielmehr sind diese Konstellationen lediglich „verwirrend für das Rechtsgefühl“[349]. Das liegt daran, dass der Gesetzgeber den Zweck der jeweiligen Regelung nicht deutlich gemacht hat.[350] Soweit aber Art. 3 Abs. 1 GG nicht verletzt wird,[351] müssen diese Inkonsequenzen bestehen bleiben; der Rechtsanwender darf sich diesbezüglich nicht über den Gesetzgeber erheben.[352] Im Strafrecht hat allerdings das Gesetzlichkeitsprinzip Vorrang vor dem allgemeinen Gleichheitssatz, weshalb insoweit etwa eine Harmonisierung von Strafrahmen (zu Lasten des Betroffenen) nicht verfassungsrechtlich geboten, sondern gerade untersagt ist.[353]
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Unter teleologischen Widersprüchen versteht Engisch Konstellationen, in denen der Gesetzgeber zwar einen bestimmten Zweck verfolgt, aber nicht die hierfür notwendigen Maßnahmen ergreift.[354] Problematisch ist in diesem Kontext insbesondere das Phänomen der symbolischen Gesetzgebung. Ist ein in Grundrechte eingreifendes Gesetz nicht in der Lage, dem eigentlich mit seiner Einführung verfolgten Zweck zu dienen, bestehen Bedenken hinsichtlich seiner Verfassungsmäßigkeit im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Im Übrigen aber bestehen teleologische Widersprüche regelmäßig[355] fort, da sie sich nicht wie echte Normwidersprüche zwangsläufig auflösen.
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Die sog. Prinzipienwidersprüche bestehen laut Engisch darin, dass verschiedene Teile der Rechtsordnung „nach gegensätzlichen Grundgedanken gestaltet [sind], ohne daß die Verschiedenheit der Prinzipien in der Verschiedenheit der zu regelnden Lebensgebiete begründet ist.“[356] Auch diese sind weitestgehend hinzunehmen, ohne dass dies der Einheit der Rechtsordnung im hier verstandenen Sinne widerspräche. Es besteht gerade keine Selbstbindung des Gesetzgebers;[357] insbesondere existiert auch kein ungeschriebener Verfassungssatz, der eine Harmonisierung der Zielsetzungen der Teilrechtsordnungen gebietet.[358] Zum einen sind unterschiedliche Zielsetzungen verschiedener Teilbereiche innerhalb einer komplexen Rechtsordnung unvermeidlich;[359] umgekehrt ist dem Gesetzgeber durch Art. 3 Abs. 1 GG sogar eine Grenze hinsichtlich der vermeintlichen Herstellung einer falsch verstandenen Einheit der Rechtsordnung gezogen.[360] Zum anderen kommt hier regelmäßig das beschriebene Verhältnis von Recht und Politik zum Tragen: Stammen verschiedene Teile der Rechtsordnung aus verschiedenen politischen Phasen, so sind diese in ihrem jeweiligen Geiste auszulegen, solange der jüngere politische Gesetzgeber keine Normen erlassen hat, die den älteren Rechtskomplex mitgestalten. Dies betrifft auch die jeweils zugrunde gelegten Prinzipien. Dementsprechend ist es auch der Exekutive und der Gerichtsbarkeit gem. Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG verwehrt, entgegen dem positiven Recht eine vermeintliche Konsistenz zwischen den Teilrechtsordnungen herzustellen.[361]
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Ein davon abweichendes Modell hat Joachim Renzikowski entwickelt:[362] Danach sind Wertungswidersprüche grundsätzlich auch über die Grenze des Art. 3 GG hinaus aufzulösen – wenn möglich.[363] Dies folgert er aus der „innere[n] Ordnung und Einheit des Rechts“, die „in der Rechtsidee selbst“ wurzle.[364]
Damit erklären sich auch die Divergenzen zur hier dargelegten Auffassung. Renzikowski leitet den Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung aus dem Rechtsbegriff selbst her und versteht ihn zudem als Postulat. Außerdem geht er von der Rechtsordnung als „Menschenwerk“ aus.[365] Insoweit kann auf die obigen Ausführungen[366] verwiesen werden.
Im Ergebnis beschränken sich die Unterschiede zwischen Renzikowskis Modell und dem hier vertretenen auf ein Minimum. Auch er gesteht zu, dass Wertungswidersprüche nicht immer vermeidbar sind, was in erster Linie durch den jeweiligen historischen Kontext verschiedener Normen sowie gewandelte Weltanschauungen bedingt ist.[367] Im Übrigen dürfe der Rechtsanwender sich nicht zur Beseitigung von Wertungswidersprüchen über den Gesetzgeber erheben.[368] Insoweit verläuft der Ansatz Renzikowskis parallel zum hiesigen.
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Eine generelle Wertungseinheit besteht demnach innerhalb einer Rechtsordnung nicht.
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