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Ein ähnlicher Ansatz findet sich bereits deutlich früher bei Stooß; nach ihm wird (anders als bei der Notwehr) etwa durch den Notstand nur die Kriminalisierung aufgehoben, während die Frage nach der Rechtswidrigkeit des Verhaltens in Bezug auf andere Rechtsgebiete hiervon unberührt bleibt.[295] Umgekehrt erkennt er aber an, dass sonstige Normen, die ein Verhalten für rechtmäßig erklären, jedenfalls auch die Strafbarkeit ausschließen.[296]
(cc) Lehre vom rechtsfreien Raum
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Nach einer weiteren Ansicht kann tatbestandliches Verhalten nicht nur als „rechtmäßig“ oder „rechtswidrig“ qualifiziert werden; es gebe auch noch die Möglichkeit der Einordnung als „unverboten“.[297] In einem solchen Falle werde das betroffene Verhalten von der Rechtsordnung nur hingenommen, nicht aber gebilligt.[298] Eine Bewertung des Verhaltens finde gerade nicht statt, weshalb nicht vom „rechtsfreien“, sondern vom „rechtswertungsfreien“ Raum zu sprechen sei.[299] Relevanz entfalte diese Differenzierung insbesondere in Bezug auf das Notwehrrecht des Betroffenen, das diesem in vollem Umfang erhalten bleibe.[300] Dabei gehe es um tragische Fälle, in denen eine klare Kategorisierung als gerechtfertigt oder entschuldigt sich verbiete; es solle allein der moralischen Entscheidung des Einzelnen überlassen bleiben, wie er sich verhalte.[301] Von der herrschenden Ansicht hingegen werden diese Fälle regelmäßig durch den entschuldigenden Notstand oder die Pflichtenkollision erfasst.[302]
(dd) Eigener Ansatz
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Nach der hier vertretenen Auffassung muss das Rechtswidrigkeitsurteil für die gesamte Rechtsordnung einheitlich gefällt werden: Der einheitliche Volkswille, der gleichermaßen hinter den abstrakt-generellen Normen des Gesetzgebers und den konkret-individuellen Entscheidungen der Rechtsprechung steht, kann ein bestimmtes Verhalten oder einen bestimmten Zustand nur entweder billigen oder nicht billigen; Zwischenstufen (wie ein „rechtswertungsfreier Raum“) sind nicht denkbar. Unterschiede können in den verschiedenen Teilen der Rechtsordnung nur in Bezug auf die Konsequenzen bestehen, die das Recht an das Verdikt der Rechtswidrigkeit knüpft. Wie bereits dargestellt, muss beispielsweise nicht zwangsläufig jedes rechtswidrige Verhalten auch strafrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Umgekehrt ist es aber unzulässig, Sanktionen für ein Verhalten auszusprechen, das von der Rechtsordnung an anderer Stelle gebilligt wird. Damit befindet sich die vorliegende Darstellung im Einklang mit der wohl herrschenden Literatur[303] und Rechtsprechung[304].
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Auch widerspricht dieses Vorgehen nicht dem oben dargestellten Verständnis einer einheitlichen Rechtsordnung. Einheit bedeutet danach nicht ein verkrampftes Streben nach Gleichbehandlung möglichst vieler Sachverhalte, sondern eine angemessene Berücksichtigung der jeweiligen Unterschiede. Insoweit ist es nur konsequent, dass zwar das Rechtswidrigkeitsverdikt einheitlich zu fällen ist, die verschiedenen Rechtsgebiete jedoch auf den Sachverhalt angepasst unterschiedlich darauf reagieren können.[305] Damit streiten die Bemühungen nach einer angemessenen Differenzierung nicht zwangsläufig für eine Relativität der Rechtswidrigkeiten.[306]
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Wesentlich gewichtiger scheint auf den ersten Blick der Einwand, dass der Gegenstand des Rechtswidrigkeitsverdikts je nach Rechtsgebiet ein unterschiedlicher ist. Bei näherer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass dieses Argument vielmehr für die hier favorisierte einheitliche Bestimmung der Rechtswidrigkeit streitet: Es ist unproblematisch, dass bestimmte Sachverhalte nicht von allen Teilrechtsgebieten erfasst werden. Steht etwa ausschließlich ein Zustand, der nicht durch menschliches Verhalten verursacht wurde, auf dem Prüfstand der Rechtsordnung, trifft jedenfalls das Strafrecht hierüber keine Aussage, solange nicht im Raum steht, dass einzelne Personen verpflichtet wären, diesen Zustand zu beseitigen, was wiederum ein menschliches Verhalten und somit einen anderen Prüfungsgegenstand bedeuten würde. Dementsprechend kann es aber insoweit auch nicht zu vermeintlichen Widersprüchen hinsichtlich der Rechtswidrigkeitsfrage kommen. Ein einheitliches Rechtswidrigkeitsverdikt kann natürlich nur von den Bereichen der Rechtsordnung erwartet werden, die sich überhaupt mit einem bestimmten Sachverhaltstypus befassen.
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Damit sei nicht verschwiegen, dass es nicht immer trivial ist, den Gegenstand der Rechtswidrigkeitsprüfung genau zu bestimmen. Geht es um ein menschliches Verhalten, kann es etwa darauf ankommen, welche Umstände des Verhaltens in die Betrachtung mit einzubeziehen sind. Schießt etwa eine Person in Notwehr auf eine andere, stellt sich die Frage, inwiefern zu berücksichtigen ist, ob diese Person die Waffe legal besitzt. Da die Benutzung der Waffe quasi eine speziellere Form des Besitzes darstellt, wird man insoweit nur auf den Schuss als Verhalten abstellen können mit der Folge, dass der Besitz der Waffe im Zeitpunkt der Abgabe des Schusses ebenfalls durch die Notwehr gerechtfertigt ist; im Übrigen ist der Zustand des illegalen Waffenbesitzes aber (auch) nach waffenrechtlichen Maßstäben zu beurteilen, der außerhalb des Schusses selbst wohl als rechtswidrig anzusehen sein wird.[307] Ebenso muss bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Teilnahme einer Person am Straßenverkehr mitberücksichtigt werden, ob diese eine Fahrerlaubnis besitzt, sie fahrtauglich ist, das Fahrzeug die straßenverkehrsrechtlichen Anforderungen erfüllt und ob ein Versicherungsschutz besteht.
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Nicht zu leugnen ist weiterhin, dass die Frage der Rechtswidrigkeit immer ausgehend von einem speziellen Tatbestand[308] gestellt wird. Das ändert aber nichts daran, dass die letztendliche Feststellung, ob der Gegenstand des Tatbestandes rechtmäßig oder rechtswidrig ist, vor dem Hintergrund der gesamten Rechtsordnung zu treffen ist. Der Tatbestand bestimmt die Fragestellung und ihren Gegenstand. Im Falle eines Straftatbestandes etwa bezeichnet er das Verhalten, das auf seine Rechtswidrigkeit untersucht werden soll. Zudem gibt der Tatbestand vor, wie weit die Wirkung der Rechtswidrigkeit reichen wird, wenn sie vor dem Hintergrund der Gesamtrechtsordnung bejaht wird. Die Rechtswidrigkeit eines straftatbestandsmäßigen Verhaltens etwa wirkt immer in Bezug auf die gesamte Gesellschaft, während eine schlichte Vertragsverletzung im Regelfall (es sei denn, die Rechtsordnung bekundet – wie z.B. im Falle des Betrugstatbestandes –, dass sie eine Vertragsverletzung zur öffentlichen Angelegenheit erhebt) nur inter partes als rechtswidriges Verhalten relevant wird. Zwar ist das betreffende Verhalten generell als rechtswidrig anzusehen; aufgrund der tatbestandlichen Begrenzung kann aber nur der betroffene Vertragspartner hieraus Rechte ableiten. Damit ist wieder der Punkt angesprochen, dass die einzelnen Rechtsgebiete regeln, welche Konsequenzen sie aus dem Rechtswidrigkeitsverdikt ziehen.
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Aufgrund dieser weitreichenden Funktionen des Tatbestandes ist auch nicht einzusehen, weshalb es einer spezifischen Strafrechtswidrigkeit bedürfen sollte. Die Abschichtung, wann Unrecht kriminalisiert werden sollte und wann nicht, kann ohne weiteres vom Tatbestand geleistet werden. Das Gesetz bietet auch keinerlei Anhaltspunkte für eine Unterscheidung der Rechtfertigungsgründe; weitere problematische Konstellationen können auf der Ebene der Schuldhaftigkeit befriedigend gelöst werden.[309]
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Hervorzuheben ist noch, dass diese Ausführungen sich auf die allgemeine Rechtswidrigkeitsfeststellung beziehen, die als Stufe der Straftatprüfung anerkannt ist.[310] Damit ist aufgrund der – sogleich noch näher zu behandelnden – Relativität der Rechtsbegriffe allerdings noch nicht ausgesagt, dass das Gesetz, wenn es den Begriff „rechtswidrig“ verwendet, auf diese Rechtswidrigkeitsfeststellung