3. Umfang des geschriebenen Geschäftsordnungsrechts
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Zum geschriebenen Geschäftsordnungsrecht gehören als vollwertige Geschäftsordnungsvorschriften auch die (derzeit sieben) Anlagen zur Geschäftsordnung.[38] Sie wurden geschaffen, als neue Verfahrensweisen erprobt werden sollten, ohne die traditionelle Paragraphenfolge zu verändern. Sie sind Bestandteil des geschriebenen Geschäftsordnungsrechts, weil sie vom Plenum erlassen und damit wie eine Geschäftsordnungsänderung behandelt wurden.[39] Teil des Geschäftsordnungsrechts sind außerdem die Hausordnung (§ 7 Abs. 2 GO-BT), Richtlinien (etwa für Ausschussprotokolle, § 73 GO-BT), Ausführungsbestimmungen (z.B. zu den Verhaltensregeln nach Anlage 1 zur GO-BT[40]) und Parlamentsbeschlüsse.
4. Besonderheiten des Geschäftsordnungsrechts
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Das Geschäftsordnungsrecht weist einige Besonderheiten auf. Erstens existiert neben dem geschriebenen (kodifizierten, förmlichen) Geschäftsordnungsrecht eine Fülle an ungeschriebenen Regeln (Gewohnheitsrecht) und Traditionen (Parlamentsbrauch) mit großer Bedeutung für Verfahren und Organisation des Parlaments. Das geschriebene und das ungeschriebene Recht bilden gemeinsam die materielle Geschäftsordnung. Verfassungsvorschriften mit Parlamentsbezug wie z.B. Art. 46 GG zählen nicht zum Geschäftsordnungsrecht.[41] Die materielle Geschäftsordnung ist das allein für das Parlament geltende, abstrakt-individuelle Binnenrecht.[42] Die Geschäftsordnung besitzt mangels Außenwirkung keine Gesetzeskraft.[43]
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Zweitens ist das Geschäftsordnungsrecht – gerade wegen seines fragmentarischen Charakters[44] – flexibler als andere Rechtsgebiete.[45] Dies liegt zum einen an der Bedeutung der Parlaments-(rechts-)wirklichkeit und zum anderen an der Möglichkeit, im Einzelfall mit einer Zweidrittelmehrheit (§ 126 GO-BT) abzuweichen. „Abweichung“ bedeutet Durchbrechung im Einzelfall.[46] Ein ausdrücklicher oder – nach Hinweis auf eine abweichende vorherige Vereinbarung – konkludenter Beschluss ist nötig; das Ausbleiben eines Widerspruchs genügt für eine zulässige Abweichung nicht.[47] Der Abweichungsmöglichkeit sind verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt. Was aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht Geschäftsordnungsrecht werden kann, darf auch nicht nach § 126 GO-BT beschlossen werden. Die Flexibilität ist vorteilhaft, da sie es dem Parlament ermöglicht, innerhalb des Verfassungsrahmens schnell auf aktuelle politische Ereignisse zu reagieren und sein Verfahren lebendig fortzuentwickeln.[48] Üblich ist die Erprobung bestimmter Verfahrensweisen nach einer interfraktionellen Absprache. Einige der einstmals erprobten Verfahrensweisen sind dadurch leicht zu erkennen, dass sie als Anlage ihren Weg in das geschriebene Geschäftsordnungsrecht gefunden haben (vgl. z.B. Anlage 5 zur GO-BT).
5. Verhältnis von Gesetz und Geschäftsordnung
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Das Rangverhältnis von Gesetz und Geschäftsordnung ist umstritten. Das BVerfG und Teile der Literatur halten das Gesetz für höherrangig.[49] Die Gegenansicht plädiert für die Gleichrangigkeit.[50] Für den höheren Rang des Gesetzes spricht, dass die Geschäftsordnung wegen der Abweichungsmöglichkeit (§ 126 GO-BT) und der nach h.M. begrenzten Geltung für jeweils eine Wahlperiode (sachliche Diskontinuität) im Vergleich zum Gesetz schwächer erscheint. Gegen den höheren Rang des Gesetzes spricht nicht, dass das Grundgesetz, anders als in den sonstigen Vorrangsituationen Verfassung – Gesetz (vgl. Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3), Gesetz – Rechtsverordnung (vgl. Art. 80 Abs. 1 S. 1) sowie Gesetz/Rechtsverordnung – Satzung (vgl. Art. 28 Abs. 2 GG), den Vorrang des Gesetzes vor der Geschäftsordnung nicht ausdrücklich regelt.[51] Ein Bedürfnis für eine solche Regelung besteht schlicht nicht. Ohnehin entstehen Konflikte nur ausnahmsweise, etwa wenn eine Vorschrift der GO-BT einer Gesetzesnorm widerspricht.[52] Denn das Gesetz und die Geschäftsordnung haben unterschiedliche Anwendungsbereiche: Gesetze wirken nach außen, die Geschäftsordnung nur nach innen, ins Parlament hinein.[53] Außerdem kennt die Verfassung Fälle, in denen Geschäftsordnungsfragen ausdrücklich durch Gesetz zu regeln sind – in denen mit anderen Worten eine Geschäftsordnungsvorschrift nicht genügt. Solche Fälle liegen dann vor, wenn Regelungen Grundrechte (Art. 10 Abs. 2 S. 2, 45b S. 2, 45c Abs. 2) oder grundrechtsgleiche Rechte (Art. 41 Abs. 3 GG) betreffen.[54]
6. Formenwahlrecht?
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Umstritten ist, ob Geschäftsordnungsfragen auch ohne Ermächtigung durch das Grundgesetz in Gesetzesform geregelt werden dürfen. Solche Regelungen finden sich z.B. im ParlBG, in § 6 BVerfGG zur Wahl der Richter des BVerfG und § 10a Abs. 2 BHO zur Ausgabenbewilligung für die Nachrichtendienste des Bundes. Auf den ersten Blick scheint die Antwort klar zu sein. Das Parlament ist ein Gesetzgebungsorgan und kann Rechtsfragen per Gesetz klären. Man kann sich fragen, warum es ihm verwehrt sein sollte, Geschäftsordnungsfragen auf diese Weise zu regeln. Doch ist der Bundestag nicht das alleinige Gesetzgebungsorgan. Der Bundesrat ist zu beteiligen (Art. 78 GG), selbst wenn er ein Geschäftsordnungsfragen regelndes Gesetz letztlich nicht aufhalten könnte. Auch der Bundespräsident ist an der Gesetzgebung beteiligt, da er das beschlossene Gesetz ausfertigen und verkünden muss (Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG). Bei einer Regelung in Gesetzesform ist für jede Rechtsänderung ein neues Gesetzgebungsverfahren mit Beteiligung des Bundesrates und des Bundespräsidenten zu durchlaufen. Mit anderen Worten: Der Bundestag wäre nicht mehr alleiniger Herr seiner Geschäftsordnung, wenn er sie durch Gesetz regelte.[55] Einer Auffassung nach ist daher eine ausdrückliche Ermächtigung durch das Grundgesetz zwingende Voraussetzung dafür, dass eine Geschäftsordnungsfrage durch Gesetz geregelt werden darf.[56] Solche Ermächtigungen finden sich in Art. 10 Abs. 2 GG für das G-10, Art. 23 Abs. 7 GG für das EUZBBG, Art. 41 Abs. 3 GG für das WPrüfG, Art. 45b S. 2 GG für das WBeauftrG, Art. 45c Abs. 2 für das Befugnisgesetz, Art. 45d Abs. 2 GG für das PKGrG, Art. 48 Abs. 3 S. 3 GG für das AbgG). Eine weitergehende Ansicht lässt die Regelung in einem formellen Gesetz nur zu, wenn eine grundgesetzliche Ermächtigung vorliegt oder nicht nur Abgeordnete, sondern auch andere Rechtssubjekte verpflichtet werden sollen[57] (wie z.B. beim PUAG). Andere Autoren meinen sogar, der Bundestag habe ein freies Formenwahlrecht.[58] Zu prüfen sei nicht, welche Rechtsform gewählt werde, sondern ob ein Vorhaben – wegen der Drittwirkung mancher Regelungen – verfassungsgemäß sei.[59] Eine vermittelnde Auffassung, die vom BVerfG und von Teilen des Schrifttums vertreten wird[60] besagt, der Bundestag dürfe seine Organisation grundsätzlich auch durch Gesetz regeln. Dies sei jedenfalls dann der Fall, wenn erstens der Bundesregierung keine ins Gewicht fallenden Einwirkungsmöglichkeiten auf das Verfahren und die Willensbildung des Bundestags eröffnet würden, wenn zweitens weder das Gesetz noch dessen Aufhebung der Zustimmung des Bundesrates bedürften, wenn drittens der Kern der Geschäftsordnungsautonomie unberührt bleibe und wenn viertens gewichtige sachliche Gründe für die Wahl der Gesetzesform sprächen.
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Zutr.