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IV. Formelles Geschäftsordnungsrecht (GO-BT)
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Fall 1:
§ 3 Abs. 3, §§ 4, 5, 7 ParlBG, § 10a Abs. 2 BHO und § 6 BVerfGG regeln Fragen des Geschäftsganges des Bundestages. Ist das verfassungsgemäß? Lösung Rn. 103
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Durch eine Geschäftsordnung regeln Parlamente insb. ihren Verfahrensgang, sofern dieser nicht durch die Verfassung oder einfaches Gesetzesrecht normiert wird. Weitere Bestandteile einer Geschäftsordnung sind Vorschriften über die Parlamentsorgane, die Rechte und ggf. Pflichten von Abgeordneten sowie über dauerhafte Zusammenschlüsse von Abgeordneten (Fraktionen und Gruppen). Die Geschäftsordnung hat drei Funktionen: Sie ist Verfahrensordnung und dient dem Minderheitenschutz sowie der Selbstorganisation.[12] Den Begriff „Geschäftsordnung“ hat erstmals Friedrich Carl von Savigny (1779-1861) 1825 anlässlich der Formulierung einer Verfahrensordnung des preußischen Staatsrates vorgeschlagen.[13] Das Geschäftsordnungsrecht ist das „Kernstück“ des Parlamentsrechts.[14]
1. Verfassungsrechtliche Grundlage: Geschäftsordnungsautonomie
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Seine verfassungsrechtliche Grundlage hat das Geschäftsordnungsrecht in der Geschäftsordnungsautonomie des Parlaments (vgl. Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG). Die Volksvertretung darf[15] und muss[16] ihren Geschäftsgang ohne die Einschaltung anderer Staatsorgane – autonom – bestimmen. Die Geschäftsordnungsautonomie ist ein grundlegender Aspekt der Parlamentsautonomie.[17] Die Parlamentsautonomie erfasst über den reinen Geschäftsgang (das Verfahren, den Ablauf) hinaus auch die Selbstorganisation (den organisatorischen Aufbau) des Parlaments (s. Rn. 312 ff.). Eine scharfe Trennung zwischen Geschäftsordnung und Selbstorganisation ist aber nicht in jedem Fall möglich. Zum Teil werden Parlaments- und Geschäftsordnungsautonomie daher auch synonym verwendet.[18]
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Der Sinn der Geschäftsordnungsautonomie erschließt sich aus ihrer Geschichte: Die frühkonstitutionellen Parlamente besaßen oftmals nicht das Selbstversammlungs- und Selbstorganisationsrecht. Ihr Präsident wurde häufig vom Monarchen bestimmt, dem auch die Wahlprüfung oblag. In der Verfassung und im einfachen Gesetzesrecht war der Geschäftsgang detailliert vorgezeichnet. In der Zeit ihrer Entstehung im Laufe des 19. Jh.s sollte die Geschäftsordnungsautonomie des Parlaments dazu dienen, dessen Selbstständigkeit gegenüber der monarchischen Exekutive zu wahren. Doch auch im parlamentarischen Regierungssystem des Grundgesetzes dient sie primär dem Schutz des Parlaments vor Gängelungsversuchen der Regierung.[19]
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Das Parlament hat bei der Entscheidung darüber, welche Regeln es zu seiner Selbstorganisation und zur Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Geschäftsganges benötigt, einen weiten Gestaltungsspielraum.[20] Innerhalb dessen kann das Parlament Regeln für Abgeordnete und Fraktionen aufstellen und deren Befugnisse bestimmen. Die Autonomie umfasst nur den Binnenbereich des Parlaments. Sie wirkt nicht nach außen.[21] Aus ihr kann nach h.M. eine Verpflichtung anderer Verfassungsorgane oder von deren Mitgliedern nicht abgeleitet werden.[22] Da die Geschäftsordnung der Verfassung gemäß Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG im Rang nachsteht,[23] darf sich ihr Inhalt weder zu den ausdrücklichen Regelungen des Grundgesetzes, noch zu den allgemeinen Verfassungsprinzipien und den der Verfassung immanenten Wertentscheidungen in Widerspruch setzen.[24]
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Die Regelungsmacht des Parlaments in eigenen Angelegenheiten wird erstens durch die im Grundgesetz verankerten Statusrechte der Abgeordneten beschränkt (näher Rn. 135 ff.): die Freiheit des Mandats und die Gleichheit des Mandats (Art. 38 Abs. 1 GG)[25] sowie die Rechte nach Art. 46-48 GG und die parlamentarischen Mitwirkungsrechte (Prinzip der Beteiligung aller Abgeordneten an den Aufgaben des Parlaments).[26] Die Geschäftsordnung regelt die Art und Weise der Ausübung dieser Statusrechte. Sie setzt dabei grundlegende Bedingungen für die geordnete Wahrnehmung dieser Rechte, die als Mitgliedschaftsrechte aufeinander abgestimmt werden müssen; nur so wird dem Parlament die sachgerechte Aufgabenerfüllung ermöglicht.[27]
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Zweitens beschränken die ausdrücklichen Verfahrens- und Organisationsvorschriften der Verfassung die Geschäftsordnungsautonomie. Sie regeln die Einberufung des Bundestages (Art. 39 Abs. 3 S. 1, 2), die grundsätzliche Sitzungsöffentlichkeit (Art. 42 Abs. 1), die Mehrheitserfordernisse (Art. 42 Abs. 2, 77 Abs. 4, 79 Abs. 2, 80a Abs. 1 S. 2, 115a Abs. 1 S. 2, 121), das Zitierrecht (Art. 43 Abs. 1) sowie das jederzeitige Zutritts- und Rederecht der Mitglieder und Beauftragten der Bundesregierung und des Bundesrates (Art. 43 Abs. 2 GG). Außerdem normieren sie die Einrichtung bestimmter Ausschüsse und Gremien sowie die Wahl des Wehrbeauftragten (Art. 45-45d), die Kanzlerwahl (Art. 63, 67) und die Vertrauensfrage (Art. 68), die Richterwahl (Art. 94 Abs. 1, 95 Abs. 2) sowie das Initiativrecht im Gesetzgebungsverfahren (Art. 76 GG). Des Weiteren bestehen Vorgaben für die Behandlung von EU-Angelegenheiten (Art. 23, 45) und für die Haushaltsgesetzgebung (Art. 110 Abs. 3 GG).[28]
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Drittens engen die verfassungsrechtlich verankerten Minderheitsrechte, wie das Recht auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses (Art. 44 Abs. 1 S. 1, s. Rn. 544 ff.), auf Konstituierung des Verteidigungsausschusses als Untersuchungsauschuss (Art. 45a Abs. 2 S. 2) und auf Einberufung des Bundestages (Art. 39 Abs. 3 S. 3 GG) die Geschäftsordnungsautonomie ein.
2. Erlass der Geschäftsordnung
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Das Plenum des Bundestages beschließt die Geschäftsordnung mit einfacher Mehrheit (vgl. Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG). Grundlage des Beschlusses ist entweder ein Antrag einer oder mehrerer Fraktionen oder von fünf Prozent der Abgeordneten oder eine Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (1. Ausschuss). Dieser ist befugt, in Geschäftsordnungsfragen selbst initiativ zu werden (§ 128 GO-BT).
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Da die Geschäftsordnung auf eine Willensentschließung des Parlaments in eigenen Angelegenheiten zurückgeht, wird sie auch als „autonomes Parlamentsrecht“[29] bezeichnet. Da sie in eigenen Angelegenheiten in Rechtssetzungsautonomie erlassen wird, liegt es nahe, sie als „Satzung“ zu bezeichnen. Der vom BVerfG und Teilen der Literatur verwendete Terminus der „autonomen