Hinweis:
Folgt man dem BVerfG kommt es auf die Frage, inwieweit sich L als juristische Person des EU-Auslands auch auf das „Deutschengrundrecht“ des Art. 12 GG berufen kann (dazu Fälle 2, 4, zudem näher unten Rn 86) nicht an.
3. Rechtfertigung
Der Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG kann allerdings gerechtfertigt sein, wenn er aufgrund eines formell und materiell mit der Verfassung im Einklang stehenden Gesetzes erfolgt[18].
a) Formelle Verfassungsmäßigkeit des § 2 IHKG
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Die Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers zum Erlass des IHKG ergibt sich aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG iVm Art. 72 Abs. 2 GG. Fehler im Gesetzgebungsverfahren sind nicht ersichtlich.
b) Materielle Verfassungsmäßigkeit des § 2 IHKG
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Damit das Gesetz materiell als verfassungsgemäß eingestuft werden kann, muss es insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranken-Schranke entsprechen. Hierzu ist erforderlich, dass die Kammer legitime öffentliche Aufgaben wahrnimmt und ihre Errichtung – gemessen an diesen Aufgaben – dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht[19]. Öffentliche Aufgaben sind dabei solche, „an deren Erfüllung ein gesteigertes Interesse der Gemeinschaft besteht, die aber weder allein im Wege privater Initiative wirksam wahrgenommen werden können noch zu den im engeren Sinn staatlichen Aufgaben zählen, die der Staat selbst durch seine Behörden wahrnehmen muss“[20]. Die Aufgaben der IHK ergeben sich aus § 1 IHKG. Bei der IHK handelt es sich angesichts der in § 1 IHKG spezifierten Aufgaben weniger um „berufsständische Selbstverwaltung“ als um generelle Wirtschaftsförderung und Interessenvertretung[21]. Da es für die erforderliche Geeignetheit der Maßnahme aufgrund der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers genügt, wenn durch die Zwangsmitgliedschaft das angestrebte Ziel einer möglichst effektiven Aufgabenwahrnehmung zumindest gefördert werden kann, begegnet auch die Eignung keinen Bedenken. Die Übertragung der Aufgaben auf eine aus der Wirtschaft heraus gebildete und damit besonders „sachnahe“ Einrichtung stellt sich sogar in besonderer Weise als geeignet dar. Da sich andererseits dieses Ziel nur dann erreichen lässt, wenn die betroffenen Kreise möglichst umfassend repräsentiert werden, erscheint eine Pflichtmitgliedschaft auch als erforderlich. Die Maßnahme müsste schließlich auch angemessen sein (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn), dh die Intensität des Eingriffs darf nicht außer Verhältnis zur Wertigkeit des angestrebten Ziels stehen. Die Pflichtmitgliedschaft und die damit verbundene Beitragspflicht sind aufgrund der Koppelung an Art, Umfang und Leistungsfähigkeit des Gewerbebetriebs als relativ geringer Eingriff für die betroffenen Mitglieder zu werten. Vor allem ist auch zu berücksichtigen, dass die Pflichtmitgliedschaft nicht nur negative Folgen für den Betroffenen nach sich zieht, sondern auch die Möglichkeit zur Partizipation an staatlichen Entscheidungsprozessen eröffnet. Gerade dies ist aber bei der IHK anders, die angesichts ihrer heterogenen Mitgliederstruktur viel weniger gemeinsame Interessen vertritt als andere Kammern: Allerdings sieht § 1 Abs. 1 IHKG die besondere Aufgabe gerade im Ausgleich der Einzelinteressen. Aufgabe der IHK ist also nicht die Artikulation einer „einzigen Gesamtauffassung einer homogenen Gruppe“[22]. Außerdem besteht ihre Aufgabe in einer Beratung ihrer Mitglieder. Angesichts des weiten gesetzgeberischen Spielraums bei der Schaffung von Selbstverwaltungseinrichtungen bestehen daher keine grundsätzlichen Bedenken gegen die Aufgabenzuweisung. Aus diesem Blickwinkel fördert insbesondere eine Pflichtmitgliedschaft in besonderer Weise das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel, indem sie die „Voraussetzungen für eine partizipative Ermittlung des Gesamtinteresses nach § 1 Abs. 1 IHKG“ sichert[23]. Allerdings muss der Gesetzgeber auch die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die IHK diesen Anforderungen an den Binnenpluralismus gerecht wird; insoweit bedarf es bei der IHKG daher im Ergebnis einer Ergänzung der rudimentären gesetzlichen Regelungen[24]. Allerdings stellen diese Lücken, die sich möglicherweise auch durch Auslegung schließen lassen, die Pflichtmitgliedschaft nicht als solches in Frage.
III. Die Vereinbarkeit mit den Grundfreiheiten
1. Einschlägige Grundfreiheit
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Pflichtmitgliedschaften in öffentlich-rechtlichen Körperschaften müssen sich wegen den damit verbundenen Auswirkungen auf den gemeinsamen Binnenmarkt auch am Unionsrecht messen lassen. Der Bearbeitervermerk beschränkt die Prüfung auf die Grundfreiheiten. Hierbei kommen insbesondere die Niederlassungs- und die Dienstleistungsfreiheit als Maßstab in Betracht. In sachlicher Hinsicht erfasst Art. 49 AEUV die selbstständige wirtschaftliche Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat auf unbestimmte Dauer, einschließlich der Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften. Die Dienstleistungsfreiheit dagegen schützt typischerweise auf eine kürzere Dauer angelegte Tätigkeiten. Da L sich mit der Errichtung der Zweigniederlassung in Deutschland dauerhaft wirtschaftlich in einen fremden Mitgliedsstaat integriert, ist der sachliche Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit eröffnet.
Hinweis:
Die Grundfreiheiten werden zunehmend durch spezielleres Sekundärrecht verdrängt (dazu näher die Fälle 5, 8). Auf dieses ist in der Klausur selbstverständlich nur dann einzugehen, wenn der Sachverhalt entsprechende Hinweise enthält bzw die einschlägigen Bestimmungen abgedruckt werden. Vorliegend könnten die Dienstleistungs- und die Berufsanerkennungsrichtlinie in Betracht kommen. Erstere befasst sich für die Niederlassung im Aufnahmestaat jedoch nur mit Genehmigungserfordernissen (Art. 9 ff DLR), letztere gilt nur für die sog. „reglementierten Berufe“. Diese sind in Art. 3 Abs. 1 lit. a BerufsanerkennungsRL legaldefiniert. Ein reglementierter Beruf liegt also nur dann vor, wenn die Aufnahme oder Ausübung einer beruflichen Betätigung direkt oder indirekt durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften an den Besitz einer bestimmten Berufsqualifikation gebunden ist. Dies ist offensichtlich nicht der Fall. Die Frage einer Zwangsmitgliedschaft in der IHK ist daher sekundärrechtlich nicht geregelt[25] und – wie im Bearbeitervermerk vorgesehen – allein an den Grundfreiheiten zu messen.
Auch der persönliche Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit müsste eröffnet sein. Nach dem Wortlaut des Art. 49 AEUV erfasst sie nur natürliche Personen. Durch Art. 54 Abs. 1 AEUV werden diesen allerdings Gesellschaften gleichgestellt, sofern sie nach den Rechtsvorschriften eines der Mitgliedsstaaten gegründet worden sind und ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Union haben. Dies ist bei L als einer nach englischem Recht gegründeten privaten Kapitalgesellschaft mit Sitz in England der Fall. Der persönliche Anwendungsbereich ist eröffnet.
2. Eingriff: Maßnahme gleicher Wirkung
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§ 2 IHKG könnte in die Niederlassungsfreiheit eingreifen. Eine Diskriminierung liegt nicht vor, da die Pflichtmitgliedschaft allein an die Steuerpflicht und eine inländische Betriebsstätte anknüpft. Auch ihre Modalitäten differenzieren nicht zwischen In- und Ausländern. Allerdings könnte eine Maßnahme gleicher Wirkung vorliegen. Nach der, auch auf die Niederlassungsfreiheit übertragbaren Dassonville-Formel des EuGH fallen darunter alle Maßnahmen der Mitgliedsstaaten, „die geeignet sind, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern“[26].
Ob auf der Grundlage dieser Formel die Pflichtmitgliedschaft in einer Kammer eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit darstellt, ist allerdings umstritten. In der