Vgl. zu deliktischen Ansprüchen Dritter vor allem den Fall 11 „Altenteil“.
Die Rechtsprechung umgeht dieses Problem, indem sie die Fahrt- und Übernachtungskosten von nahen Angehörigen für Krankenhausbesuche als Schaden des Verletzten ansieht. Sie zählen zu den erforderlichen Kosten der Heilbehandlung, auch wenn die Angehörigen keinen Ersatz von dem Verletzten fordern. Als Heilungskosten gelten nämlich alle Kosten, die zur Behebung bzw. Linderung des Leidens erforderlich sind.[40] Durch die Anerkennung eines sogenannten normativen Schadens des Verletzten wird verhindert, dass die heilungsfördernden Besuche der Familienangehörigen den Schädiger unverdientermaßen entlasten.
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Treu und Glauben gebieten es, dass die Kosten möglichst gering gehalten werden. Das ergibt sich auch aus der Pflicht zur Schadensminderung gem. § 254 II BGB, die letztlich eine Ausgestaltung von § 242 BGB ist. Die Mutter des A wählte die Übernachtung in einer preiswerten Pension, was nicht zu beanstanden ist. Problematisch ist die lange Dauer ihres Aufenthalts. Tägliche Besuche sind nur in Ausnahmefällen ersatzfähig. Entscheidend sind dabei die Höhe der Kosten und die Schwere der Verletzungen.[41] Wegen der überaus schweren, auch psychisch extrem belastenden Verletzungen des A erscheint es jedoch fast zwingend geboten, die Notwendigkeit der mütterlichen Betreuung auch über den Zeitraum von drei Monaten zu bejahen. Für diesen Zeitraum hat der Schädiger auch den Verdienstausfall des Angehörigen aufgrund der Besuche zu ersetzen.[42] Die Gesamtkosten der M sind demnach erstattungsfähig.
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Ergänzender Hinweis:
Bzgl. der Kosten für die Besuche naher Angehöriger wäre auch eine andere Anspruchskonstruktion denkbar. Man kann die der Mutter entstandenen Kosten als Aufwendungen im Rahmen einer Geschäftsführung ohne Auftrag begreifen.[43] Dabei wäre zunächst zu fragen, ob es sich um eine GoA für den Schädiger oder für den Geschädigten handelt. Das Interesse des Schädigers am Heilungserfolg des Geschädigten ist aufgrund seiner gesetzlichen Schadensersatzpflichten unbestreitbar (Naturalrestitution). Aber auch ein Interesse des Geschädigten lässt sich ohne große Mühe begründen.
Problematisch könnte der Fremdgeschäftsführungswille der Mutter des A sein.[44] Nach der Rechtsprechung des BGH handelt es sich bei einer Heilungsförderung zugunsten eines Geschädigten um ein objektiv fremdes Geschäft.[45] Der Fremdgeschäftsführungswille wird deshalb vermutet. Selbst wenn man stattdessen von einem auch-fremden Geschäft ausginge, würde die Rechtsprechung diese Vermutung des Fremdgeschäftsführungswillens annehmen.[46]
Vgl. zu der Kritik an der Rechtsprechung zum auch-fremden Geschäft aber Fall 7 „Erbensucher“.
Im Falle der Annahme einer GoA für den Schädiger ergäbe sich sodann ein Erstattungsanspruch der Mutter für im Rahmen der Verhältnismäßigkeit liegende Auslagen nach §§ 677, 683 BGB. Dieser Anspruch steht dem Angehörigen persönlich – nicht dem Geschädigten zu. Nimmt man hingegen eine GoA für den Geschädigten an, so wäre dieser seiner Mutter nach §§ 677, 683 BGB ausgleichspflichtig. Diese Belastung mit einem Anspruch wäre ihm im Rahmen des Schadensersatzes als adäquat-kausale Folge der Schädigung vom Schädiger zu ersetzen; zu prüfen wäre dies dann im Rahmen der haftungsausfüllenden Kausalität.
2. Anspruch auf Schadensersatz aus § 823 II BGB i. V. m. § 229 StGB
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Der Straftatbestand der fahrlässigen Körperverletzung (§ 229 StGB) ist Schutzgesetz i. S. v. § 823 II BGB. Zu prüfen ist zunächst der Tatbestand von § 229 StGB, wobei das vorwerfbare Verhalten des F, wie oben dargestellt, in einem Unterlassen liegt. Wie auch in der obigen Prüfung ist daher zu fragen, ob den F eine Handlungspflicht („Garantenstellung“) getroffen hätte und ob er gegen diese verstoßen hat. Soweit man im Rahmen von § 823 I BGB eine fahrlässige Verletzungshandlung des F bejaht, steht der konsequenten Annahme einer solchen Handlungspflicht bei § 229 StGB nichts im Wege. Freilich bleiben Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit der Körperverletzung zu erörtern. Da die strafrechtliche Verantwortlichkeit hier höhere Anforderungen stellt,[47] lässt sich sowohl eine Annahme als auch eine Ablehnung von § 229 StGB vertreten. Sofern man eine fahrlässige Körperverletzung nach § 229 StGB annehmen möchte, liegen damit bereits alle Voraussetzungen einer Schadensersatzpflicht nach § 823 II BGB vor, da § 229 StGB schon eine Form von Verschulden (Fahrlässigkeit) voraussetzt.
Hinweis für die Fallbearbeitung:
§ 823 II BGB stellt Studierende in Klausuren immer wieder vor größere Probleme. Nicht wenige lassen sich verleiten, strafrechtliche Detailkenntnisse vorzuexerzieren, was angesichts knapper Bearbeitungszeit regelmäßig die Prüfung des § 823 II BGB unproportional anschwellen lässt. Nur äußerst selten liegt ein Schwerpunkt der deliktsrechtlichen Prüfung in Detailfragen etwa der Strafrechtsdogmatik – daher sind Studierende normalerweise gut beraten, die Prüfung relativ knapp zu halten.
Als Beispiel für eine inzidente strafrechtliche Problematik (§ 132a StGB) vgl. Fall 4 „Rechtsanwalt“, Teil 1 Ziffer 4.
II. Ansprüche des A gegen die S-AG
1. Anspruch auf Schadensersatz aus § 280 I 1 BGB
A könnte gegen die S-AG einen Anspruch auf Schadensersatz wegen Verletzung der Pflichten aus dem Beförderungsvertrag haben.
Ergänzender Hinweis:
§ 280 I 1 BGB ist hier, auch wenn man den Beförderungsvertrag als Werkvertrag i. S. von § 631 BGB einordnet, nicht etwa über § 634 Nr. 4 BGB, sondern direkt anwendbar. Es geht nämlich nicht darum, dass die S-AG ihre Leistungspflicht – die Beförderung der Fahrgäste – schlecht erfüllt hat, sondern darum, ob sie eine Nebenpflicht aus dem Vertrag – den Schutz der Fahrgäste vor Gefahren – verletzt hat.
a) Schuldverhältnis
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Ein Schadensersatzanspruch aus § 280 I 1 BGB setzt zunächst ein bestehendes Schuldverhältnis voraus. In Betracht kommt hier ein Beförderungsvertrag zwischen A und der S-AG. Ob ein solcher Vertrag zustande kam, obwohl A keine Fahrkarte löste, bedarf eingehender Prüfung.
Straßenbahnfahrten gehören zum Massenverkehr. Die Leistung wird durch die Fahrgäste regelmäßig in Anspruch genommen, ohne dass es zu einem ausdrücklichen Vertragsschluss kommt. Für solche Fälle wurde ehemals die Lehre vom faktischen Vertrag entwickelt, nach der ein Vertrag schon durch das tatsächliche Verhalten zustande kommen soll, ohne dass es auf korrespondierende Willenserklärungen ankäme. Die Konstruktion eines Schuldverhältnisses durch sozialtypisches Verhalten beruht auf demselben Gedanken. Auf diese Weise können Verträge im Massenverkehr sogar mit Geschäftsunfähigen begründet werden. Dies ist zugleich einer der Kritikpunkte, die dazu führten, dass die Lehre heute kaum noch vertreten wird. Das Regelungsmodell des BGB baut darauf auf, dass ein Vertrag als privatautonomes Rechtsgeschäft durch Angebot und Annahme, d. h. durch zwei korrespondierende Willenserklärungen zustande kommt. Die Lehre vom faktischen Vertrag bzw. sozialtypischen Verhalten verstößt gegen die Grundsätze der Privatautonomie, unterläuft den Schutz der Minderjährigen und Geschäftsunfähigen und erweist sich obendrein als sachlich überflüssig.[48]
Ein Rückgriff auf den faktischen Vertrag ist auch im vorliegenden Fall entbehrlich. Das Bereitstellen der abfahrbereiten Straßenbahn kann zwanglos als konkludentes Angebot der S-AG zum Abschluss eines Beförderungsvertrags ausgelegt werden (§§ 133, 157 BGB). Man spricht von einer Realofferte. Es handelt sich um ein Angebot an die Allgemeinheit,