Eine zumutbare Handlungsmöglichkeit zur Abwendung etwaiger Gefahren war verfügbar. Der Fahrer hätte den betrunkenen A auffordern können, sich mit ihm in den vordersten Wagenteil zu begeben, um ihn im Auge behalten zu können. Denkbar wäre auch gewesen, über Funk die Polizei oder den Rettungsdienst zu verständigen. An Karneval dürften Polizei und Einsatzdienste im Raum Mainz zwar überaus beansprucht sein, so dass die Erfolgsaussicht eines solchen Vorgehens womöglich zweifelhaft erscheinen könnte, dies spricht aber nicht gegen einen entsprechenden Versuch. Das alles deutet auf das Vorliegen einer Verkehrssicherungspflichtverletzung hin.
Andererseits war A immerhin ansprechbar. Er vermochte – wenn auch mit sichtlicher Mühe – zu reagieren. Undeutlich, aber nachvollziehbar erklärte er dem Fahrer, dass er seine Haltestelle verpasst hätte. Demnach lag es keineswegs fern, dem A weiteren Aufenthalt in der Bahn zu gewähren, bis die Rückfahrt, die in wenigen Minuten bevorstand, beginnen würde. Es lässt sich gut hören, dass die konkrete Situation nicht erkennbar gefährlich gewesen war und F davon ausgehen konnte, dass A über das Wachrütteln hinaus keiner weiteren Hilfe bedurfte. Darauf ließe sich zwar erwidern, dass zumindest die Möglichkeit bestand, dass A alsbald wieder einschlafen und wiederum bis zur Endhaltestelle weiterfahren würde. Dies würde für A jedoch keinen sonderlichen Schaden darstellen.
Eine Verletzung der allgemeinen Verkehrspflicht des A, sich um hilfsbedürftige Personen zu kümmern, kann deshalb ebenso gut bejaht wie auch verneint werden.
bb) Verkehrssicherungspflicht aus der Dienstanweisung
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Eine Haftung des F könnte sich ferner aus der Verletzung seiner speziellen Dienstpflichten aus seinem Anstellungsverhältnis ergeben. Die Dienstanweisung verlangt von den Fahrern, an der Endhaltestelle in den Waggons verbleibende Fahrgäste zum Verlassen der Bahn aufzufordern. Man kann vertreten, dass F dies nicht mit hinreichendem Nachdruck getan habe. Er hat A zwar mit einiger Mühe wachgerüttelt und auf die Endhaltestelle hingewiesen, aber nicht darauf bestanden, dass A die Bahn verlässt.
Legt man die Dienstanweisung allerdings teleologisch aus, ist fraglich, ob F im konkreten Fall tatsächlich eine entsprechende Pflicht traf. Es erscheint stattdessen fast unzumutbar, von einem Fahrgast, der seine Haltestelle „verschlafen“ hat, in einer kalten Februarnacht zu verlangen, die Bahn zu verlassen, um sie für die Rückfahrt nach wenigen Minuten erneut zu besteigen.
Im konkreten Fall könnte das sogar den strafrechtlichen Tatbestand der Aussetzung gem. § 221 StGB[16] erfüllen und wäre angesichts der Möglichkeit von Erfrierungen und anderen Verletzungen jedenfalls grob sorgfaltswidrig.
Selbst wenn man die Verletzung der Dienstanweisung bejaht, bleibt fraglich, ob die Rechtsgutsverletzung in den Schutzbereich dieser Anweisung fällt. Hierzu müsste mittels Auslegung geklärt werden, warum die Fahrgäste zum Verlassen der Straßenbahn aufgefordert werden sollen. Der BGH hat im Originalfall insoweit an das OLG zurückverwiesen, um den Sachverhalt weiter aufzuklären.[17] Das OLG Köln hat daraufhin festgestellt, dass die Anweisung der Kölner Verkehrsbetriebe, von der die hier verwendete in entscheidenden Details abweicht, auch den Schutz aller Fahrgäste vor Gefährdungen bezweckt.[18]
Die fiktive Dienstanweisung im Sachverhalt führt auf, dass Ortsunkundige auf das Erreichen der Endhaltestelle hingewiesen werden sollen. Dies trifft die vorliegende Situation offenkundig nicht. Aber auch der Fall einer missbräuchlichen Rundfahrt liegt nicht vor. A ist versehentlich eingeschlafen. Er wollte nicht über seinen Heimweg hinaus in der Bahn sitzen bleiben, wie das bei Obdachlosen der Fall sein mag, die in der kalten Jahreszeit möglichst lange in einer beheizten Straßenbahn zubringen wollen.
Die in der Dienstanweisung angesprochenen Gründe sprechen vorliegend gegen eine weite Erstreckung des Schutzbereichs. Es geht der S-AG offenbar vorrangig darum, missbräuchliches Verhalten zu verhindern. Dazu gehören neben den Rundfahrten auch Vandalismus und mutwillige Verschmutzung der Waggons. Mit einem solchen Verhalten ist zwar bei Betrunkenen grundsätzlich zu rechnen, hier geht es aber um Gefahren, denen die Betrunkenen selbst ausgesetzt sind und nicht um Beschädigungen an der Bahn. Gewichtige Gründe sprechen deshalb gegen die Annahme einer Verletzung der Verkehrssicherungspflicht aufgrund der Dienstanweisung.
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Hinweis zum Aufbau:
Auch wenn hier eher dazu tendiert wird, eine Verkehrssicherungspflichtverletzung des F zu verneinen, wird die Lösung aus didaktischen Gründen an dieser Stelle im Sinne der ebenso gut zu vertretenden Gegenmeinung fortgeführt. In einer Klausur wäre ein anderer Aufbau erforderlich: Lehnt man eine Verkehrssicherungspflichtverletzung des F ab, ist die Prüfung von Ansprüchen gegen ihn beendet. Die Lösung ist mit den Ansprüchen gegen die S-AG fortzusetzen. Kommt man auch dort nicht über den objektiven Tatbestand hinaus, bietet es sich an, die Fragen des Mitverschuldens und des Anspruchsinhalts im Rahmen eines Hilfsgutachtens zu erörtern. Der Sachverhalt verlangt insb. nach einer Auseinandersetzung mit den Aufwendungen der Mutter des A.
c) Haftungsbegründende Kausalität
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Bejaht man eine Pflichtverletzung, ist zu prüfen, ob diese für die eingetretene Rechtsgutsbeschädigung des A auch kausal geworden ist. Besteht das Verhalten des Schädigers in einem Unterlassen, spricht man von Quasi-Kausalität. Unter Abwandlung der Äquivalenztheorie ist dann zu fragen, ob der Erfolg mit hinreichender Wahrscheinlichkeit entfallen wäre, wenn man die gebotene Handlung hinzudenkt.[19] Hätte F darauf bestanden, dass A den Zug verlässt, hätte sich dieser nicht in gleicher Weise auf den Zeitungen zur Ruhe legen können. Der Brand und die Verletzungen wären aller Wahrscheinlichkeit nach verhindert worden. Das Unterlassen ist somit als kausal anzusehen.
d) Zurechnung
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Bejaht man ein pflichtwidriges Unterlassen, so ist auch die Rechtswidrigkeit der Verletzungshandlung anzunehmen. Vorgezeichnet ist dann zugleich die Annahme einer Fahrlässigkeit i. S. v. § 276 II BGB. Das Verschulden des F ist auch kausal für den Schaden des A. Gleichwohl kann man die Frage aufwerfen, ob ihm die Rechtsgutsverletzung im haftungsrechtlichen Sinn zurechenbar ist. Der Brand entstand erst durch die Verkettung unglücklicher Umstände. Dazu haben sowohl A selbst als auch ein unbekannter Dritter, der den Zigarrenstummel auf den Boden der Straßenbahn warf, erheblich beigetragen.
Dieses gefahrträchtige Verhalten führt aber nicht zu einem Ausschluss der Zurechnung. Der Schädiger kann sich seiner Haftung grundsätzlich nicht entziehen, nur weil andere Personen und der Geschädigte selbst ebenfalls Ursachen für den Schaden gesetzt haben.[20] Ein Fehlverhalten Dritter unterbricht den Zurechnungszusammenhang in der Regel nicht. Nur bei vorsätzlichem Verhalten des Dritten oder des Geschädigten wird ein sogenanntes Regressverbot diskutiert.[21] Aus der Mitverursachung der Verletzung durch einen Dritten kann sich lediglich eine zusätzliche Haftung dieses Dritten ergeben, der dann gegebenenfalls mit F als Gesamtschuldner nach § 840 BGB haftet. Da die Identität des Rauchers unbekannt ist und die Haltestelle menschenleer war, erscheint eine Verfolgung der Ansprüche gegen diesen aber von vornherein aussichtslos.
Vgl. zum Dazwischentreten des Verhaltens Dritter den Fall 6 „Erkerzimmer“.
Für die Zurechnung ist ferner erforderlich, dass die Rechtsgutsverletzung adäquat ist. Da der Geschehensablauf jedenfalls nicht außerhalb jeder Lebenserfahrung ist, kann dies ohne längere Ausführungen bejaht werden.
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Vertiefungshinweis:
Das Adäquanzkriterium dient der Rechtsprechung als Einschränkung der „naturwissenschaftlichen“ Kausalität nach der Äquivalenztheorie.