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Vertiefungshinweis:
Die gesamtschuldnerische Haftung ist eine Rechtsfigur, die sowohl examens- als auch praxisrelevant ist. Bei der gesamtschuldnerischen Haftung haften die Schuldner im Außenverhältnis nebeneinander dem Geschädigten. Das bedeutet, dass der Geschädigte grundsätzlich nach seinem Belieben ganz oder teilweise von jedem Schuldner – insgesamt jedoch nur einmal – das Erbringen der Leistung verlangen kann, § 421 BGB. Während streitig ist, welche Fälle ohne gesetzliche Regelung unter die Gesamtschuldnerschaft fallen,[54] ordnet das Gesetz in einigen Fällen gesamtschuldnerische Haftung an, so auch in § 840 BGB, wenn Schuldner für ein Delikt gemeinsam verantwortlich sind. Das Risiko der Zahlungsunfähigkeit eines Täters liegt daher im Fall des § 840 I BGB nicht beim Geschädigten und Gläubiger, sondern bei den Schädigern. Der Begriff der unerlaubten Handlung in § 840 I BGB ist weit auszulegen und erfasst grundsätzlich auch die Tatbestände der Gefährdungshaftung, egal ob sie im BGB oder in anderen Gesetzen geregelt sind.
Die Täter müssen gemeinsam für den gleichen Schaden haften. Führen Nebentäter jeder für sich einen abgrenzbaren Verletzungserfolg herbei, scheidet eine gesamtschuldnerische Haftung aus.[55] Die Regelung, dass beide Gesamtschuldner gegenüber dem Gläubiger einzustehen haben, ist unabhängig von deren jeweiligem Beitrag zur Schadensverursachung und trifft keine Aussage darüber, wer die Schuld im Verhältnis der Schuldner zueinander letztlich zu tragen hat.[56] Das Innenverhältnis zwischen den Gesamtschuldnern ist Gegenstand der Regressansprüche gem. § 426 I und II BGB.
IV. Ansprüche der R gegen K
Bejaht man Ansprüche gegen R, so ist zu prüfen, ob ihr Rückgriffsansprüche gegen K zustehen.
1. Anspruch auf Schadensersatz aus § 280 I BGB i. V. m. der Schutzwirkung des Babysittervertrags zwischen K und den Eltern der R
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R könnte gegen K ein Regressanspruch aus dem zwischen ihren Eltern und K geschlossenen Babysittervertrag zustehen. Bei dem Babysittervertrag handelt es sich um einen Dienstvertrag (§ 611 BGB) oder eine entgeltliche Geschäftsbesorgung (§ 675 BGB). Die genaue Einordnung kann dahinstehen, weil sie für das Ergebnis nicht ausschlaggebend ist. Ein Anspruch der R als Dritte wäre nämlich nicht auf die Hauptleistung, sondern auf Schadensersatz gem. § 280 I BGB gerichtet, der auf alle Vertragstypen anwendbar ist. Voraussetzung wäre, dass R in den Schutzbereich des Babysittervertrags einbezogen ist.
Das Vorliegen eines Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter (VSD) darf das Risiko des Vertragspartners, der für Schäden eines nicht am Vertrag beteiligten Dritten einstehen soll, nicht ausufern lassen und ist daher an besondere Voraussetzungen gebunden. Ein VSD setzt zunächst die Leistungsnähe des Dritten voraus. Er muss den Schlechtleistungen in gleicher Weise ausgesetzt sein wie der Vertragspartner. Dies ist beim Babysittervertrag der Fall. R ist der Leistung ihres Babysitters K sogar noch direkter ausgesetzt als ihre Eltern als Vertragspartner des K.
Darüber hinaus muss ein Interesse des Vertragspartners am Schutz des Dritten bestehen. Davon ist jedenfalls dann auszugehen, wenn der Vertragspartner für das „Wohl und Wehe“ des Dritten verantwortlich ist, weil jenem eine Schutz- und Fürsorgepflicht obliegt. Das ist vor allem dann der Fall, wenn der Vertragspartner für den Dritten verantwortlich und diesem zum Unterhalt verpflichtet ist.[57] Die Eltern der R sind ihrem neunjährigen Kind zum Unterhalt verpflichtet und als Inhaber der elterlichen Sorge nach § 1626 BGB auch für das Wohl und Wehe der R verantwortlich.
Die ersten beiden Umstände müssen dem Vertragspartner bei Vertragsschluss bekannt gewesen sein, da bei der Auslegung eines Vertrags nach § 157 BGB nur dem Vertragspartner bekannte Umstände berücksichtigt werden. K kannte bei Vertragsschluss sowohl die Leistungsnähe des zu beaufsichtigenden Kindes als auch die Verantwortlichkeit der Eltern für ihre Tochter. R ist somit in den Schutzbereich des Babysittervertrags einbezogen.
Vgl. ausführlich zum Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter Fall 8 „Gewürz-GmbH“ und Fall 11 „Altenteil“.
K hat seine Aufsichtspflicht durch Ermunterung der R zum freihändigen Fahren und durch seine Unaufmerksamkeit in einer von ihm wahrgenommenen gefährlichen Situation schuldhaft verletzt. Er ist daher für den Schaden, den R erleidet, indem sie dem B zu Ersatz verpflichtet ist, verantwortlich. Demzufolge kann R bei K Rückgriff aus dem VSD nehmen.
2. Anspruch aus § 328 I BGB
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R könnte berechtigt sein, den Regressanspruch als Anspruch aus Vertrag zugunsten Dritter nach § 328 I BGB geltend zu machen. Auch hier geht es um einen Anspruch eines Dritten, der nicht Vertragspartner ist. Nach § 328 I BGB erwirbt der Dritte unmittelbar das Recht, die Leistung zu fordern. Gegenstand dieses Anspruchs ist im Unterschied zum VSD die vertragliche Hauptleistung. Da der Regressanspruch der R nicht auf die vertragliche Hauptleistung des „Babysittens“ gerichtet ist, kommt ein Anspruch aus § 328 I BGB jedoch von vornherein nicht in Betracht.
3. Anspruch aus §§ 426 I, 840 II BGB
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Nimmt man sowohl eine Haftung der R als auch des K gegenüber B an, könnte R ein Regressanspruch aus §§ 426 I, 840 II BGB zustehen.
Nach § 426 I BGB sind Gesamtschuldner im Verhältnis zueinander grundsätzlich zu gleichen Teilen verpflichtet. Dies gilt jedoch nur, soweit nichts anderes bestimmt ist. Eine anderweitige Bestimmung i. S. d. § 426 I 1 BGB ist auch § 840 II BGB.[58]
Die abweichende Regelung des § 840 II BGB privilegiert grundsätzlich den nach § 832 BGB Haftenden. Lediglich im hier nicht einschlägigen Fall des § 829 BGB soll die Verantwortlichkeit letztlich beim Aufsichtspflichtigen liegen. Dahinter steckt die Überlegung, dass derjenige, den nur eine Gefährdungshaftung trifft, gegenüber dem eigentlichen Schadensverursacher privilegiert werden soll. Dies entspricht dem Grundsatz, dass derjenige, der selbst eine Pflicht verletzt hat, sich im Innenverhältnis gegenüber einem Überwachungspflichtigen nicht auf unzureichende Überwachung berufen kann.[59] § 840 II BGB könnte deshalb vom Wortlaut her zu einer Ausgleichspflicht der R gegenüber K führen.
Ein Ergebnis, das dem nachlässigen Babysitter K auch noch den haftungsrechtlichen Rückgriff bei R eröffnen würde, ist in keiner Weise als interessengerecht anzusehen. Die naheliegendste konstruktive Lösung dieses Problems ist die folgende: Der Babysittervertrag zwischen K und den Eltern der R, in dessen Schutzbereich R einbezogen ist, überlagert § 840 II BGB als speziellere Regelung.[60] Bejaht man eine Haftung der R gegenüber B, so darf sie sich also im Ergebnis bei K schadlos halten, nicht umgekehrt K bei ihr.
Anmerkungen
Westermann/Bydlinski/Arnold, Schuldrecht AT, Rdnr. 81.
Zu Gefälligkeitsverhältnissen in der Fallbearbeitung eingehend Daßbach in JA 2018, 575; Staudinger-Schwarze, Neubearbeitung 2019, § 280 Rdnr. B 14.