Seit einem Grundsatzurteil des Reichsgerichts aus dem Jahr 1916[28] folgt die ganz h.M. der so genannten Theorie der Anspruchskonkurrenz. Demnach kommen Vertrags- und Deliktsrecht grundsätzlich nebeneinander („konkurrierend“) zur Anwendung.[29] Die konkurrierenden Ansprüche sind dabei voneinander unabhängig, was gegen eine Übertragung einer Haftungsmilderung vom Vertrags- in das Deliktsrecht spricht. Nach ganz herrschender Lehre, die ebenfalls schon auf die Entscheidung des Reichsgerichts zurückgeht, müssen Haftungsmilderungen, die das Gesetz im vertraglichen Bereich vorsieht, in der Regel aber auch auf konkurrierende Ansprüche aus unerlaubter Handlung übertragen werden.[30] Die Art und Weise der Übertragung der Haftungseinschränkung wird nicht einheitlich gehandhabt. Während eine Position die vertraglichen Haftungseinschränkungen im Deliktsrecht direkt anwenden will,[31] fließen die Haftungsprivilegierungen nach anderer Ansicht über den Grad der Anforderungen an die jeweilige Verkehrssicherungspflicht ein.[32] Da für das Ergebnis bedeutungslos, kann diese Frage als rein dogmatischer Streit dahinstehen.
In der Sache muss es einleuchten, dass sich die Herabsetzung des vertraglichen Haftungsmaßstabs, die sich aus der Unentgeltlichkeit des Geschäfts ergibt, auch auf die deliktsrechtlichen Pflichten des Verleihers auswirkt. Andernfalls würde die Haftungsmilderung ihrer praktischen Bedeutung weitgehend beraubt.[33] Vorzugswürdig erscheint es deshalb, auch im Rahmen von § 823 I BGB einen Anspruch des A gegen B zu verneinen.
Teil 2: Innenhof
I. Ansprüche des B gegen R
1. Vertragliche Ansprüche
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Vertragliche und quasivertragliche Ansprüche kommen bei der vorliegenden Fallgestaltung nicht in Betracht. Die Annahme eines Schuldverhältnisses nach § 311 BGB aufgrund der nachbarlichen Nutzung des Innenhofs ist, jedenfalls soweit es R betrifft, fernliegend.
2. Anspruch auf Schadensersatz aus § 823 I BGB
B könnte gegen R einen Anspruch auf Schadensersatz gem. § 823 I BGB wegen Beschädigung seines Eigentums haben.
a) Rechtsgutsverletzung
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Es liegt eine Substanzverletzung am Oldtimer vor. Diese Verletzung ist auch rechtswidrig.
b) Verschuldensfähigkeit
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Näher zu erörtern ist, ob R ein Verschulden zur Last zu legen ist. R müsste zunächst über die nötige Verschuldensfähigkeit verfügen.
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Hinweis zum Aufbau:
Die Verschuldensfähigkeit ist Voraussetzung dafür, dass ein vorsätzliches oder fahrlässiges Verhalten vorliegen kann. Es liegt deshalb nahe, die Verschuldensfähigkeit vor der Frage, ob ein Verhalten vorsätzlich oder fahrlässig i. S. d. § 276 BGB erfolgte, zu prüfen. Geht es um das Verschulden von Minderjährigen, ist diese Reihenfolge jedoch nicht zwingend. Wie sich sogleich in der Falllösung zeigen wird, sind im Rahmen von § 828 III BGB auch Fragen der Sorgfaltspflicht zu erörtern. Da für die Frage der Verschuldensfähigkeit auf den Erkenntnisstand des Minderjährigen abzustellen ist, vermischen sich beide Elemente. Es wäre deshalb auch denkbar, zunächst die Fahrlässigkeit der R zu prüfen. Allerdings wäre dies aus klausurtaktischen Erwägungen ungünstig, da man sich damit das Standard-Problem der teleologischen Reduktion von § 828 II BGB bei parkenden Fahrzeugen abschneiden würde.
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Nach § 828 II BGB ist „wer das siebente, aber nicht das zehnte Lebensjahr vollendet, hat … für den Schaden, den er bei einem Unfall mit dem Kraftfahrzeug … einem anderen zufügt, nicht verantwortlich.“ Bei der Prüfung des § 828 II BGB ist zunächst festzustellen, ob es sich um einen „Unfall“ i. S. d. § 828 II 1 BGB handelt. Der Begriff des Unfalls wird (angelehnt an § 7 StVG) definiert als plötzliches, zeitlich und örtlich bestimmtes Ereignis, welches auf äußerer Einwirkung beruht und zu einer Rechtsgutsverletzung führt.[34] Der Begriff des Kraftfahrzeugs kann § 1 II StVG entnommen werden. Demzufolge gelten Landfahrzeuge als Kraftfahrzeuge, „die durch Maschinenkraft bewegt werden, ohne an Bahngleise gebunden zu sein“, was im vorliegenden Fall nicht problematisiert werden muss.
Bei der Beschädigung eines parkenden Fahrzeugs durch ein Kind soll § 828 II BGB nach überwiegender Ansicht nicht anwendbar sein, da dies nicht dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Vorschrift entspricht.[35] § 828 II BGB soll so teleologisch zu reduzieren sein, dass der Anwendungsbereich auf die Fälle beschränkt ist, in denen sich eine „typische Überforderungssituation eines Kindes aufgrund kraftfahrzeugspezifischen Verkehrs“ verwirklicht hat.[36]
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Zur Bestimmung der Bedeutung einer Regelung gibt es vier seit langem anerkannte Erkenntnismittel: den Wortlaut der Norm (grammatische Auslegung), den Regelungszusammenhang (systematische Auslegung), die Normgeschichte (historische oder genetische Auslegung) und den Normzweck (teleologische Auslegung). Die teleologische Reduktion ist ein Unterfall der teleologischen Auslegung. Ziel der teleologischen Auslegung ist es, den Regelungszweck einer Vorschrift zu ermitteln und das Normverständnis zur Geltung zu bringen, das diesen Zweck bestmöglich verwirklicht. Bei der teleologischen Reduktion handelt es sich um einschränkende Auslegung. Ein vom Wortlaut erfasster Fall wird aus dem Anwendungsbereich der Norm herausgenommen, weil er kein entsprechendes Regelungsbedürfnis auslöst.[37]
Es ging dem Gesetzgeber bei § 828 II BGB um den Schutz der Minderjährigen vor Gefahren des motorisierten Verkehrs, dessen Gegebenheiten Kinder aufgrund weniger ausgeprägter Abschätzungsfähigkeit für Entfernung und Geschwindigkeiten nicht in gleicher Weise wahrnehmen und handhaben können, wie dies ältere Jugendliche oder Erwachsene zu tun vermögen.
Neuere Entscheidungen des BGH aus dem Jahr 2007[38] lassen Zweifel aufkommen, ob die Rechtsprechung diese Einschränkung wieder aufweichen möchte. Der BGH befürwortet eine Haftungsprivilegierung des Kindes nämlich unabhängig davon, ob sich die Überforderungssituation konkret auswirkt und hält alleine die Altersgrenze für maßgeblich.[39] Allerdings bezieht der BGH dies in den fraglichen Entscheidungen ausdrücklich auf den Bereich des motorisierten Verkehrs. Die vorherigen Entscheidungen, die eine teleologische Reduktion des Wortlauts des § 828 II 1 BGB befürworten, bleiben unwidersprochen.[40]
Die teleologische Reduktion erscheint auch richtig. Zwar gehören parkende Fahrzeuge zum Verkehr. Für das Verhalten der R ist es jedoch unerheblich, ob in dem Innenhof ein Kraftfahrzeug stand oder ein anderer Gegenstand, den R ebenso beschädigt hätte, wenn sie mit ihrem Fahrrad daran „vorbeigeschrammt“ wäre.
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Die Verschuldensfähigkeit könnte trotzdem zu verneinen sein – aufgrund der allgemeinen Regelung für Minderjährige in § 828 III BGB. Danach ist „wer das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, …, sofern seine Verantwortlichkeit nicht nach Absatz 1 oder 2 ausgeschlossen ist, für den Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich, wenn er bei Begehung der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht hat“.
Das Risiko einer Beschädigung der parkenden Fahrzeuge bei freihändigem Fahren in unmittelbarer