169
Neben diesen Direktklagen gibt es noch das praktisch sehr bedeutsame Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV). Dem Vorabentscheidungsverfahren liegt stets ein Rechtsstreit vor einem nationalen Gericht zugrunde, bei dem es auf die Auslegung primärrechtlicher EU-Normen oder die Vereinbarkeit sonstiger EU-Normen mit dem Primärrecht ankommt. Da hierüber allein der EuGH (und nicht einmal ein nationales Verfassungsgericht!) letztverbindlich entscheiden kann, muss das nationale Gericht spätestens in letzter Instanz einen solchen Fall dem EuGH vorlegen, damit dieser seine Rechtsauffassung darlegen kann. Nur durch dieses Auslegungs- und Verwerfungsmonopol des EuGH kann eine EU-weit einheitliche Anwendung und Auslegung des EU-Rechts sichergestellt werden. Die EuGH-Entscheidung ist dann sowohl für das konkret vorlegende Gericht als auch – soweit eine Aussage über die Auslegung oder Gültigkeit einer EU-Norm getroffen wird – generell für alle EU-Organe und Mitgliedstaaten verbindlich (z.B. Feststellung der Rechtswidrigkeit der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung[46]).
7. Europäische Zentralbank
Vertiefungshinweis:
Art. 282-284, 127-133 AEUV
170
Die Europäische Zentralbank (EZB) genießt neben ihrer Stellung als EU-Organ auch eine eigene Rechtsfähigkeit (Art. 282 III AEUV). Sie wird vom EZB-Rat geführt, dem das Direktorium und die (derzeit 18) Präsidenten der nationalen Notenbanken aller Euro-Staaten[47] angehören. Die sechs Mitglieder des Direktoriums (einschließlich Präsidentin und Vizepräsident) werden vom Europäischen Rat auf Empfehlung des (Minister-)Rates nach Anhörung des EP und des EZB-Rates für die Dauer von acht Jahren (ohne Wiederernennungsmöglichkeit) ernannt (Art. 283 II AEUV).
171
Die EZB ist für die Leitung des Europäischen Zentralbanksystems, dem neben der EZB alle nationalen Notenbanken des Euro-Raumes angehören, zuständig. Sie legt zur Sicherung der Preisniveaustabilität die Währungspolitik des Euro fest, nimmt nach Bedarf Deviseninterventionen vor und verwaltet die offiziellen Währungsreserven der Mitgliedstaaten (Art. 127 II AEUV). Außerdem ist die EZB exklusiv berechtigt, über die Ausgabe von Euro-Banknoten und -Münzen zu entscheiden (Art. 128 AEUV). Bei der Wahrnehmung dieser Aufgaben ist die EZB ausdrücklich unabhängig, was alle übrigen EU-Organe und die Mitgliedstaaten zu respektieren haben (Art. 282 III AEUV).
172
Besondere Aufregung hat deshalb ein Urteil des BVerfG vom Mai 2020 verursacht, in dem infrage gestellt wurde, ob das PSPP[48]-Anleihenprogramm noch vom währungspolitischen Mandat der EZB gedeckt oder bereits im Schwerpunkt als wirtschaftspolitische Maßnahme – für die die Mitgliedstaaten zuständig wären – anzusehen ist.[49] Denn natürlich kann die Unabhängigkeit der EZB nur innerhalb ihrer Aufgabenfelder gelten, wozu das PSPP allerdings laut einer vorherigen Entscheidung des EuGH zählt.[50]
8. Rechnungshof
Vertiefungshinweis:
Art. 285-287 AEUV
173
Dem Rechnungshof gehört pro Mitgliedstaat ein Mitglied an (Art. 286 I AEUV). Die Mitglieder müssen – idealerweise durch eine Tätigkeit an einem nationalen Rechnungshof – eine besondere Eignung aufweisen und werden vom (Minister-)Rat auf der Grundlage von Vorschlägen der jeweiligen nationalen Regierungen und nach Anhörung des EP für die Dauer von sechs Jahren (mit Wiederwahlmöglichkeit) ausgewählt (Art. 286 II AEUV).
174
Die zentrale Aufgabe des Rechnungshofs ist die Rechnungsprüfung bei grundsätzlich allen Organen und Einrichtungen der EU, worüber der Rechnungshof einen jährlichen Tätigkeitsbericht – vor allem über entdeckte Mängel – vorlegt (Art. 287 I, IV AEUV). Die Prüftätigkeit des Rechnungshofs umfasst die Rechtmäßigkeit und Ordnungsmäßigkeit aller Einnahmen und Ausgaben sowie die Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung (Art. 287 II AEUV). Die Rechnungshofmitglieder sind allein auf das Wohl der EU verpflichtet und genießen volle Unabhängigkeit (Art. 285 UA 1 AEUV).
9. Problem Demokratiedefizit
175
Angesichts der weitreichenden Aufgabenfelder der EU (s. Rn. 208 ff.), die teilweise weit und in hoheitlicher Weise in die Rechtssphäre des einzelnen Bürgers hineinwirken können, stellt sich die Frage nach der demokratischen Legitimation der Gesamtorganisation der EU. Denn trotz eines prominenten Bekenntnisses der EU zum Demokratieprinzip (Art. 2 EUV) weist die EU-Organisation sowohl im Institutionengefüge als auch in den Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen verschiedene Mängel unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten auf. Man spricht daher von einem Demokratiedefizit der EU. Dies hat auch zu dem polemischen Bonmot geführt, dass die EU selbst nicht die Demokratieanforderungen erfüllt, die sie an ihre Beitrittskandidaten stellt.[51]
176
Zu diesen Mängeln zählen insbesondere folgende Punkte:[52]
– | Die fehlende Wahlrechtsgleichheit bei der Wahl des EP wegen unterschiedlicher Stimmengewichte der Wähler je Mitgliedstaat und national verschiedener Wahlrechtsausgestaltungen (s.o., Rn. 105 f.), |
– | die teilweise zu schwache Stellung des EP als einziges direktdemokratisch legitimiertes Organ sowohl bei der Gesetzgebung als auch bei der Bildung der Kommission (s.o., Rn. 110 ff., 120, 122), |
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die zu starke Exekutivprägung der EU-Organisation wegen der immer noch teilweise dominanten Rolle des (Minister-)Rates (und des Europäischen Rates), in dem die nationalen Regierungen vertreten sind
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