aa) Begriff
159
Um eine letztendlich EU-weit einheitliche Auslegung des europäischen Rechts sicherzustellen, gibt es auch eine EU-Gerichtsbarkeit. Diese tritt unter der Bezeichnung „Gerichtshof der Europäischen Union“ auf, besteht aber aus zwei verschiedenen Gerichtsebenen. Oben steht der „Gerichtshof“ (EuGH) und darunter das „Gericht“ (EuG); von der in Art. 257 AEUV eröffneten Möglichkeit zur Einrichtung von darunter stehenden Fachgerichten hat die EU nur zeitweilig mit dem „Gericht für den öffentlichen Dienst der EU“ (EuGöD) Gebrauch gemacht.[41] Gemeinsam bilden diese Gerichte den „Gerichtshof der Europäischen Union“ i.S.v. Art. 19 EUV.
bb) Instanzenzug
160
Die instanzielle Hierarchie zwischen diesen Gerichten ergibt sich aus Art. 256 AEUV. Soweit das EuG erstinstanzlich tätig wird, unterliegen seine Entscheidungen grundsätzlich einer Überprüfung durch den EuGH. Dieses Rechtsmittel kann jedoch keine strittigen Sachfragen mehr thematisieren, sondern nur noch die Rechtsauslegung bzw. -anwendung betreffen (Art. 256 I AEUV).
cc) Zuständigkeiten
161
Die Verteilung der (erstinstanzlichen) Aufgaben unter den beiden verschiedenen Gerichtsebenen ist in Art. 256 AEUV und in Art. 51 der Satzung des Gerichtshofs der EU geregelt. Daraus ergibt sich (bei einigen Ausnahmen) im wesentlichen folgende Zuständigkeitsverteilung (zu den einzelnen Verfahrensarten s.u., Rn. 168 f.):
162
– | Der Gerichtshof (EuGH) ist erstinstanzlich hauptsächlich für Streitigkeiten zwischen EU-Organen oder zwischen der EU und einzelnen Mitgliedstaaten zuständig. Darüber hinaus obliegt ihm die Gewährleistung der einheitlichen Rechtsanwendung, in dem er als zweite Instanz – wie dargestellt – unter bestimmten Voraussetzungen Entscheidungen des Gerichts rechtlich überprüfen kann. Außerdem ist er exklusiv für Vorlagen nationaler Gerichte zuständig, wie eine bestimmte Norm des EU-Rechts (vor dem Hintergrund eines konkreten Rechtsstreits) auszulegen ist (sog. Vorabentscheidungsverfahren, s.u. Rn. 169). |
163
– | Das Gericht (EuG) ist demgegenüber als erste Instanz für die Klagen juristischer oder natürlicher Personen – also insbesondere von Bürgern oder Betrieben – wegen Maßnahmen von EU-Organen bzw. deren Substrukturen zuständig (Art. 256 AEUV). Ein Beispiel dafür wäre, wenn sich ein Unternehmen dagegen wehren möchte, dass die Kommission ihm wegen Wettbewerbsverstößen eine Geldbuße auferlegt. Hinzu kommen Schadenersatzklagen, Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen (soweit nicht der EuGH zuständig ist) sowie Entscheidungen aufgrund von Schiedsklauseln (Art. 268, 272 AEUV). |
164
Ebenso ist es (seit der Auflösung des EuGöD) auch für dienst- und arbeitsrechtliche Streitigkeiten von EU-Beamten und sonstigen Bediensteten der EU mit der Union als Arbeitgeberin zuständig (Art. 270 AEUV). |
dd) Besetzung
165
Alle Richter werden auf sechs Jahre ernannt und können wiedergewählt werden (Art. 253 UA 4 AEUV). Alle drei Jahre wird jeweils die Hälfte der Richter sowohl beim EuGH als auch beim EuG neu ernannt (Art. 253 UA 2 AEUV). Jeder Mitgliedstaat hat im EuGH eine und im EuG zwei Richterstellen zu besetzen. Die Ernennung erfolgt im Einvernehmen der Regierungen aller Mitgliedstaaten, wobei der jeweiligen nationalen Regierung ein Vorschlagsrecht zusteht (Art. 253 UA 1 AEUV). In Deutschland muss – schon aus verfassungsrechtlichen Gründen – diesem Vorschlag der nationale Richterwahlausschuss zustimmen (§ 1 III RiWG).[42]
166
Für jeden Mitgliedstaat gilt außerdem, dass der Ernennung eine Anhörung durch den Richterprüfungsausschuss gem. Art. 255 AEUV vorausgeht. Dieser Ausschuss besteht aus sieben Persönlichkeiten, die entweder ehemalige Europarichter sind, den höchsten nationalen Gerichten angehören oder sonst anerkannt hervorragend befähigte Juristen sind. Die Einbindung des Ausschusses soll zum einen eine europäische Sichtweise in das nationale Auswahlverfahren einbringen, und zum anderen die erforderliche fachliche Qualität der Richter sicherstellen.
b) Verfahrensarten
167
Die meisten EU-Verfahrensarten sind sog. „Direktklagen“, weil sie – oft nach erfolgloser Durchführung eines internen Vorverfahrens[43] – direkt bei einem europäischen Gericht eingeleitet werden können. Diese Verfahren dienen zum einen zur Entscheidung von Streitfällen innerhalb des EU-Systems, also von EU-Organen untereinander oder mit EU-Mitgliedstaaten. Zum anderen haben sie die Funktion, Meinungsverschiedenheiten zwischen EU-Bürgern (v.a. Unternehmen) und der Union bzw. Unionsorganen zu lösen (ohne Zwischenschaltung nationaler Instanzen).[44] Zu diesen Direktklagen gehören Vertragsverletzungsverfahren, Nichtigkeits- und Untätigkeitsklagen, Amtshaftungsklagen und dienst- und arbeitsrechtliche Klagen von EU-Bediensteten.
168
Abbildung 17: Direktklage-Verfahren beim Gerichtshof der EU
Verfahrensart | Streitparteien | Gegenstand des Verfahrens | Konsequenzen bei Erfolg |
---|---|---|---|
Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258, 259 AEUV) | Antragsberechtigt ist die Kommission (Regelfall), aber auch jeder Mitgliedstaat.[45] Antragsgegner sind einzelne Mitgliedstaaten. | Handeln des beklagten Mitgliedstaates, das nach Auffassung des Antragstellers gegen primäres oder sekundäres EU-Recht verstößt. | Verpflichtung des beklagten Staates, den festgestellten Verstoß schnellstmöglich abzustellen bzw. zu korrigieren (z.B. eine zu Unrecht gewährte Subvention zurückzufordern). Ansonsten drohen finanzielle Sanktionen. |
Nichtigkeitsklage (Art. 263, 264 AEUV) | Klageberechtigt sind die Mitgliedstaaten, die EU-Organe und der AdR sowie – bei persönlicher Betroffenheit – nat. und jur. Personen. Klagegegner ist ein EU-Organ oder eine sonstige EU-Einrichtung. | Rechtlich verbindlicher Akt des beklagten EU-Organs (bis hin zu Gesetzgebungsakten), der nach Auffassung des Klägers gegen das EU-Recht verstößt. | Rückwirkende Nichtigkeitserklärung des angegriffenen Rechtsaktes (z.B. einer Richtlinie, für die keine Zuständigkeit der EU besteht). |
Untätigkeitsklage (Art. 265 AEUV) |
Klageberechtigt sind die Mitgliedstaaten, die EU-Organe sowie – bei persönlicher Betroffenheit – nat. und jur. Personen.
Klagegegner ist ein EU-Organ.
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