Zum Subjektsein gehören unverbrüchlich dreierlei elementare Wahrnehmungen der Geschlechtlichkeit: erstens die Fremdwahrnehmung, zweitens das Wahrnehmen und Spüren am eigenen Leib und drittens die psychosoziale Konstruktion eigener Vorstellungen hierzu. Diese Reihenfolge ist diejenige, die der menschlichen Entwicklung entspricht, und aus ihr leiten sich bereits einige der zentralen Problemstellungen ab, die mit Sex (als biologischem Körper) und Gender (als sozialkonstruktivistischem, behavioralem Geschehen) in Zusammenhang stehen.
Unabhängig davon, wohin die Identitätskonstruktion im Leben eines Menschen sich entwickeln mag, geht die erste geschlechtersensible Projektion auf den Leib aus der sozialen Umgebung als Fremdwahrnehmung des morphologischen Geschlechts hervor. Drei weitere Ebenen der Bestimmung des biologischen Geschlechts – genetisch, hormonell, neuronal – bleiben davon zunächst unberührt. Sie kommen erst beim Auftreten ernster Fragen um das Geschlecht zum Vorschein, dann meistens im medizinischen Kontext (Steins, 2010). Insofern zeigt sich Geschlechtlichkeit zu Beginn des Lebens als etwas „Pathisches“, als etwas, das einem widerfährt (Böhme, 2017).
Mit dieser ersten Projektion wird der Mensch in einen dichten Schleier sozialer, kultureller und zeitepochal imprägnierter Erwartungen und Stereotypien gehüllt, mit denen er sich hinsichtlich der Konstruktion seiner Gender Identity lebenslang auseinandersetzen wird. Das sind Eigenschafts-, Fähigkeits- und Rollenzuschreibungen, Verhaltens- und Attributionserwartungen, stereotype Orientierungen in Richtung Beziehungsstile, Anpassung, Dominanz und Wertepräferenzen (Asendorpf, 2007). Ein opulentes, machtvolles Geschehen also, das mit seinen Definitionsansprüchen den Gefühlen und Präferenzen, den späteren Selbstwahrnehmungen, den geschlechtsleiblichen Erfahrungen und sexuellen Präferenzen des Individuums recht unempfindlich gegenübersteht.
Bis das Subjekt in Richtung möglicher Definitionen geschlechtsleiblicher Selbstzuschreibungen erwacht, eigene Rollen und Präferenzen konstruieren und vertreten lernt, vergehen gute zehn Jahre, in denen es diese Stereotypien – nicht nur passiv, sondern auch produktiv zwar, aber doch intensiv – in sein Selbst-, Fremd- und Weltbild aufnimmt. Mit Hermann Schmitz (2007a) kann man hinsichtlich dieses Prozesses auch von der Einleibung geschlechtssensibler Erwartungen sprechen, aus der heraus die Epigenese einer Geschlechtsidentität und -leiblichkeit hervorgeht. Von den Stereotypien abweichendes Verhalten wird derweil von den beiden Geschlechtern bilateral sanktioniert, vor allen Dingen in den Peergroups, die in dieser Hinsicht in unserer Kultur zum Teil eine radikalere Sozialisationsagentur darstellen als Eltern und Großeltern. Um in seiner Umgebung überleben zu können, wird das Subjekt sich zunächst diesen Erwartungen anpassen müssen, eine Revolte – so sie denn nötig wird – kommt, wenn überhaupt, erst später.
Dabei darf nicht vergessen werden, dass geschlechtersensible Präferenzen auch jenseits sozialisativer Einflüsse auftreten. Hierzu einige Beispiele: Säuglinge und Kleinkinder etwa zeigen eine Bevorzugung für gleichgeschlechtliche Spielpartner. Obwohl sie konzeptuell noch kein Geschlechtsbewusstsein besitzen, können sie eine Wahl treffen, die über motorische und stimmliche Aktivitätskonturen, die sich bei den Geschlechtern schon früh unterscheiden, prozedural selektiert wird. Auch olfaktorische Wahrnehmungen spielen hierbei eine Rolle (Hatt & Dee, 2009). In ähnlicher Weise sind Präferenzen für geschlechtersensibles Spielzeug und Kleidung zu verstehen, die weit vor jeder bewussten Repräsentation des eigenen Geschlechts auftreten. Phänomene der ,Geschlechtsapartheid‘ in der späten Kindheit können noch als Ausdruck evolutionärer Schemata gedeutet werden, obwohl hier freilich sozialisative Einflüsse schon deutlicher gegeben sind (mehr hierzu bei Bischof-Köhler, 2004, 2011 sowie bei Steins, 2010).
Muster von Weiblichkeit und Männlichkeit tradieren in der Regel subtil sozialisativ, weil die kulturelle Umgebung stereotype Rollen- und Funktionsverteilungen als „normal“ attribuiert und sie so verstärkt. Um Veränderungen bewirken zu können, sind daher langfristige mentale und gesellschaftliche Umarbeitungen bei den Geschlechtern vonnöten. Weder Frauen noch Männer noch X können im Denken wirklich auf die andere Seite kultureller Stereotypie oder Geschlechtsleiblichkeit gelangen. Nur eine diesbezügliche Hyperreflexivität und eine grundlegende – nicht nur auf die Variable „Geschlecht“ oder „Gender“ bezogene – Wertschätzung der Andersheit des Anderen (Baudrillard, 2016; Lévinas, 1998) zeigen somit ein Schlupfloch in Richtung einer ausgeglicheneren Diskursivität und eines breiteren Diversitätsverstehens auf (Landweer et al., 2012).
Dabei ist problematisch, dass in der ,Genderdebatte‘ zwischen dem biologischen Körper und der sozialen Konstruktion konzeptuell keine subjektive Leibwahrnehmung verankert wurde. Die subjektiv-leibliche Erfahrung, das Spüren von Geschlechtlichkeit am eigenen Leib wurden – wie die Leiblichkeit ganz generell – zeitepochal ausgeblendet (Gahlings, 2016). Demnach muss jeder einzelne Mensch sich ganz allein irgendwie im Geflecht körperlicher Gegebenheiten und gesellschaftlicher Zumutungen und Symbole zurechtfinden. Aufgrund dieser artifiziellen, entfremdeten Dichotomie ist in unserer Zeit hier alles prekär, fragil und voller Zweifel und erzeugt ein massenhaftes Unbehagen der Geschlechter (Böhme, 2017; Butler, 1991).
Ein historischer Grund hierfür liegt in der Tatsache, dass in unserer Kultur die leiblich und sozial wahrnehmbare Geschlechterdifferenz zur Grundlage einer Herrschaftsbeziehung durch das Männliche wurde. Simone de Beauvoir (1951) hat mit ihrem Werk Das andere Geschlecht die anhaltende und inzwischen blühende Debatte über die soziale Konstruktion des Geschlechts in Gang gebracht, die Zuschreibungen und Stereotypien dekonstruiert und sie in liberalere, vielfältige Formen bringt. Diese Bewegung wurde durch den Feminismus fortgeführt (Butler, 1991; Pasero & Weinbach, 2003; Illouz, 2007; Stoller, 2010), wobei auch männliche Vertreter am Dekonstruktivismus mitarbeiten (Bourdieu, 2012; Foucault, 1989a; Lyotard, 2015; Derrida, 2012; Kucklick, 2008).
Die Emanzipationsbewegung, als Versuch der Frauen, sich aus den Deutungen dieser Herrschaftsbeziehung zu befreien, hat Festschreibungen in unserer Kultur relativ erfolgreich in Frage gestellt. Resultat dieser ersten Bewegung war die begriffliche Differenzierung von sex und gender. Durch biologistische und evolutionäre Deutungen kamen hergebrachte stereotype Zuschreibungen von Frau und Mann jedoch durch die Hintertür wieder herein. Dies führte dazu, dass das Biologische an sich zuletzt als soziale Zuschreibung dekonstruiert wurde. Judith Butler (1991, 1997) und Ursula Pasero (Pasero & Weinbach, 2003) kritisierten, dass nicht nur das soziale Geschlecht eine gesellschaftliche Konstruktion, sondern auch das Biologische eine kulturelle Interpretation sei. Was man im Rahmen des sozialen Geschlechts (gender) leben könne, sei wiederum abhängig davon, welche körperlichen Möglichkeiten (sex) man habe – und diese würden in derselben Weise interpretiert und selektiert. Durch Ute Gahlings (2016) phänomenologische Ausarbeitungen der weiblichen Leiblichkeit wurde der Missing Link zwischen dem biologischen Körper und den Konstrukten der Sozialisation geschaffen (vgl. hierzu Orth, 2002).
Die Wirkung kultureller Genderformen ist indes nicht bloß repressiv, sie stellt für das Subjekt natürlich auch Orientierungen zur Verfügung. Die radikale Dekonstruktion von Genderformen kann dazu führen, dass der einzelne Mensch den leiblichen Erfahrungen seiner Geschlechtlichkeit, seiner ,Natur‘ im phänomenologischen Sinn, gewissermaßen nackt ausgeliefert ist (Böhme, 2017). Hier wird deutlich, dass geschlechtersensible Determinierungen nicht beliebig manipulierbar sind. Wenn der Leib die „Natur ist, die wir selbst sind“ (ders., 2013), wird unter der Deutung von Judith Butler Geschlechtlichkeit entleiblicht und radikal in den sozialen Raum verschoben. Es bleibt somit völlig offen, in welcher Form sie dann noch Natur sein kann bzw. ob Begriff und Inhalt von Natur als eigenleibliches Spüren überhaupt noch wertfrei differenziert werden können.
Emanzipation dagegen hieß schon immer frei werden von Natur‘, eine Transformation des Gegebenen in das Gemachte. Schon in der Nikomachischen Ethik Aristoteles‘ (2009) liegt das Menschsein nicht in den leiblichen Trieben, sondern in deren Überwindung durch die Vernunft. Und bestimmend für den politischen Menschen im damalig modernen Staat stand nicht das Ich, sondern das Wir. Entsprechend gilt in der christlichen Mystik als das Höchste des Menschen auch nicht der Leib, sondern seine Seele. Die Emanzipation vom Tier zum Menschen vollzieht sich in diesem Denken also größtenteils durch die Kontrolle und Verneinung von Leiblichkeit und Natur. Erst dies verlieh dem Menschen Würde.