Hinsichtlich der Theorien der Geschlechter ist den Theoretikerinnen der Differenz (Irigaray, 1991; Derrida, 2012, 2013) insofern Vorrang zu geben, als sie Unterschiede der Geschlechtsleiblichkeit weder ignorieren noch wegarbeiten, sondern die Differenz gerade dadurch aufwerten, dass sie jeder Form ihren eigenen Raum und ihr eigenes Gewicht geben. Geschlechtlichkeit wird hier nicht als etwas Sekundäres, als Epiphänomen, gesehen, sondern als primäre leibliche Existenzform des Menschen. Luce Irigaray hat in ihrem letzten Werk (2010) diese Vorstellung in ein Programm gestellt: Welt teilen.
So wird deutlich, dass die Zuordnung zu einem Geschlecht und dessen Bewertung eng mit herrschenden Machtstrukturen verbunden sind (Bourdieu, 2012; Han, 2005; Foucault, 2005). Der Diskurs über diversifizierte Formen von Geschlechtsleiblichkeit kann nicht mehr als individualisierte Kategorie betrachtet werden. Er ist in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft eingedrungen und verleiht der Moderne ihren Charakter. Dabei ist die Epoche, in der, neben deskriptiven und präskriptiven Stereotypien von Frau und Mann, alle darüber hinausgehenden anderen Erscheinungsformen von Geschlechtsleiblichkeit verleugnet und tabuisiert wurden, zu Ende gegangen. Zumindest in Deutschland wurde im Erscheinungsjahr dieses Buches das dritte Geschlecht gesetzlich anerkannt. Machtdiskurse sind implizit immer auch Diskurse der Freiheit (Höffe, 2015), ein zentraler Wert unserer Gesellschaft. Aber: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“ (Luxemburg, 1918). Der Diskurs über Vorstellungen von Geschlechtsleiblichkeit ist daher nicht nur eine individuelle Angelegenheit, sondern immer auch eine politische Bewegung.
Das Ansinnen der Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann im Feld der Familie und Arbeit sowie der Zugang zu ökonomischen Ressourcen oder die Verminderung sexueller Diskriminierung – von Frau und Mann und X – stellen dabei nur die historische Spitze des Eisbergs dar. (Freilich, je nachdem, wo man sich in Europa aufhält, ist selbst dieser Prozess noch immer weit offen.) Im weiteren Sinne aber geht es um die Anerkennung von Vielfalt und Diversität – Anerkennung des Anderen (Baudrillard, 2016) –, nicht nur im Rahmen von Gender Diversity, sondern auch von Culture Diversity, von Personal Diversity, um Pluralismus also (Lyotard, 2015).
Die Vertretung subjektiver Geschlechtsleiblichkeit ist immer ganz allein dem Individuum aufgebürdet. Nicht alle Menschen empfinden das als ,Freiheit‘, vielen fehlen die Ressourcen hierzu (Höffe, 2015). Zweigeschlechtlichkeit stellt sich trotz der gesetzlichen Änderungen als ein empirisches Faktum dar, das Menschen mit diversifizierten Entwürfen ihrer Geschlechtsleiblichkeit auch noch in ihrer Abkehr definiert (Böhme, 2017). Soziale Umgebungen können beachtlichen Widerstand leisten, Ängste, Ignoranz und Abwertung stehen dem Ansinnen friedlicher Andersheit oft scharfkantig im Weg. Dies trifft auf die große Gruppe geschlechtsdissidenter Menschen zu; „Queer-Sexuals“: Schwule, Lesben, Bi-, Inter-, Pansexuelle und Asexuelle, Transgender, BDSMler (Bondage, Discipline, Dominance, Submission, Sadism, Masochism) sowie Menschen, die Polyamourie praktizieren. Erst in den 1980er Jahren wurden sie aus den Kategorien psychiatrischer Zuschreibungen von Perversität, aus internationalen Klassifikationsschemata herausgenommen.
Innerhalb dieser Gruppe von Menschen sind das Problem weniger stereotype Rollen- und Verhaltenszuschreibungen, hier gab es (abgesehen vielleicht von inside norms) keine positivistischen Erwartungsnormierungen. Vielmehr geht es um das Problem gesellschaftlicher Ausgrenzung, oder andersherum gesagt, um die Anerkennung von Vielfalt durch den gesellschaftlichen Kontext. Von den Queer Studies ist hier in Zukunft innovatives Denken zu erwarten (Babka & Posselt, 2016). Diese befassen sich nicht allein mit der Dekonstruktion binärer Geschlechterstereotypien, sondern mit weit ausgreifenden zeitepochalen Aspekten in Bezug auf Kultur und Geschlechterrollen, darüber hinaus mit Wissenschafts-, Macht-, Kapitalismus- und ganz allgemein mit Ausgrenzungs- und Ausbeutungsverhältnissen.
Das emanzipatorische und herrschaftskritische Potenzial der Queer-Bewegung ist ein Programm, das vielgestaltige Lebenspraxen von Gender Identity ermöglichen könnte (Degele, 2008). Man muss hoffen, dass sie darüber hinaus das Bewusstsein der Diversität von Geschlechtsleiblichkeit fördern wird, denn Leiblichkeit wird auch hier noch unterbelichtet. Dies ist kategorisch ein anderes Programm, zwischen sozialkonstruktivistischem Denken und eigenleiblichem Spüren liegen Welten. So wird es in Zukunft nicht genügen, einen wie auch immer beschriebenen Habitus der Geschlechter in den von Frau und Mann und X aufzuteilen. Wertschätzung und Akzeptanz eines weit gefassten Pluralismus werden die Fahrzeuge zu einem Verstehen des Andersseins des Anderen darstellen, das vielleicht aus der Angst vor dem Fremden in eine Freude über die Bereicherungen durch Vielfalt führt (Nancy, 2016a, b).
Lust, Begehren, Sexualität
Geschlechtlichkeit ist eine Grunderfahrung leiblichen Daseins, unabhängig von ihrer Form, der Kategorie ihrer Benennung oder worauf sich das Begehren richtet. Sie ist eine „pathische Kategorie“, etwas, das einem widerfährt (Böhme, 2017). Im gesellschaftlichen Kontext begegnet man der Erwartung, sich einer geschlechtlichen Kategorie zuzuordnen, oder man bekommt eine zugeschrieben, und sowohl mit der Selbst- als auch der Fremdzuschreibung sind entsprechende Erwartungen verbunden.
In der geschlechtlichen Stereotypie finden sich die Antagonismen von Leistung und Hingabe, Kompetitivität und Sozialität. Dem Mann wird eine aktive Lebenshaltung zugeschrieben, sein Selbstbewusstsein nähre sich, je nachdem, wie weit er damit identifiziert sei, aus seinen Leistungen, seiner Potenz, der Stärke seines Willens, der Erfahrung, wie weit er die Welt seinen Vorstellungen gemäß gestalten oder unterwerfen könne – eine stereotype Vorstellung männlicher Macht. Leicht vorstellbar, wie gerade in Hinsicht auf die Sexualität hierdurch verhängnisvolle Missverhältnisse entstehen können. Wer immer, als Mann oder Frau, von der Vorstellung geprägt ist, dass die Sexualität seinem Willen unterliege, dem geht die Erfahrung verloren, dass die erotische Erfahrung ein Geschehen ist, das einem durch den Anderen widerfährt und an dem man teilhat (Marion, 2013).
Die historische Stereotypie projiziert weiterhin ein Bild von Frauen, die auf die Herausforderung, Leben und Leiblichkeit als etwas Gegebenes hinzunehmen, besser reagieren können. Aufgrund der nach außen hin dramatischeren Veränderung des Körpers in der Pubertät, aufgrund der Erfahrung der Monatsblutungen, der Erfahrung von Lust und Schmerz beim ersten Verkehr, des Wissens darum, ein Kind austragen zu können, sowie der intensiven Erfahrungen von Schwangerschaft und Geburt, aufgrund der meistens durch die Frau durchgeführten ersten Zeit der Säuglingsbetreuung sowie aufgrund des Klimakteriums und der Menopause solle man davon ausgehen, dass die Frau ein höheres Maß an geschlechtlich bedingter Leiberfahrung habe als der Mann, für den die Erfahrung der Geschlechtsleiblichkeit eine höhere Kontinuität aufweise (Böhme, 2017; Gahlings, 2016). Dies sind archaische Narrative, die der Überprüfung bedürfen. Dasselbe gilt für alle weiteren stereotypen Annahmen von Emotionalität, Hingabe, Zärtlichkeit, Fürsorge usw. (Steins, 2010).
Weil der Ausgangspunkt der geschlechtsleiblichen Erfahrungen zu Beginn des Lebens unweigerlich in den Fremdzuschreibungen des Geschlechts liegt, die spätere Geschlechtsidentität immer Produkt einer Auseinandersetzung mit impliziten Erwartungen ist, bleibt aber, egal wohin die Identität und die sexuelle Präferenz sich entwickeln, der erste Bezug stets die heterosexuelle Welt, in der Art wie die Kultur, in die man hineingeboren wird, sie interpretiert. Auch wenn die Erfahrungen der heterosexuellen Stereotypie nicht durchweg erfreulich sein sollten, bleiben es doch unausweichlich die eigenen, die dann weiter produktiv verarbeitet werden (Böhme, 2017).
Dabei wird eine Geschlechtsidentität, die sich nicht auf die Zeugnisse der Wahrnehmungen und des eigenleiblichen Spürens mit dem eigenen Geschlechtsleib beruft, sich also nur auf die Anpassung an Stereotypien bezieht, als fragil eingestuft. Es ist Aufgabe von Psychotherapie, diesen Prozess eigenleiblichen Spürens hinsichtlich der subjektiven Geschlechtsleiblichkeit bei beiden Geschlechtern und X zu explorieren und zu fördern. Nur so können geschlechtsleibliche Erfahrungen zur Quelle lustvoller Leiberfahrungen werden (Taylor, 1996).
Als leibliche Erfahrung existieren die Empfindungen von Erregung, Spannung, Schwellung, Engung und Weitung von Kindheit an (Schmitz, 2007a). Hier sind Hinweise dafür zu finden, dass Geschlechtsleiblichkeit nicht nur sozialisativ zu verstehen ist, denn erotische Regung und