Integrative Psychotherapeutische Diagnostik (IPD). Peter Osten. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter Osten
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846350881
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hinein, die zum Teil weit abseits des „Unbehagens in der Kultur“ liegen, wie es Sigmund Freud (1999c [1930]) verstand. Globalisierung, Fundamentalismus, Beschleunigung von Arbeitswelten, entgrenzte Machbarkeitsvorstellungen und Entleiblichung von Kommunikation, Überflutung durch Information, Quantifizierung sozialer Beziehungen (social network), Entgrenzung sozialer Transparenz, Erosion der öffentlichen Räume, die Erosion und Agonie der Innerlichkeit aufgrund eines ständigen „Nach-außen-gewand-Seins“ sind nur einige Stichworte hierzu (Kleiner et al., 2003).

      Unter diesen Bedingungen wird sowohl die Epigenese der Person als auch die Genese ihrer Störungen als ein komplexer Prozess verstanden, als ein Wechselspiel von Handlung und Wille auf der einen, Widerfahrnis und Kontingenz auf der anderen Seite (Birgmeier, 2007; Seel, 2014). Dem psychotherapeutischen Nachvollzug dieser Metamorphosen, also der Diagnostik, sind damit Limitierungen gesetzt, die mit dem Verständnis des Subjektbegriffs, der hier verwendet wird, noch deutlicher werden. Insofern der Leib mit den Sinnen, seinem Bewusstsein, seiner Ausrichtung auf die Welt hin (être au monde; Merleau-Ponty, 1966) als der unhintergehbare Ausgangspunkt des Subjekts betrachtet wird, kann dieses nicht der „selbstmächtige Grund aller seiner Setzungen“ sein, wie Henrich (2016, 18) im Sinne Heideggers (1929) erläutert. Das Subjekt wird auch nicht allein durch seine Selbstgegenwart (Sartre, 1952) definiert. Dem Subjekt fehlt ganz offensichtlich „jene Fülle, von der jeder Zweifel ausgeschlossen sein könnte“ (Henrich, 2016, 25). Das sich selbst bewusste Subjekt besitzt in diesem Verständnis immer auch Präpersonales, aus dem es schöpft, das es nicht kennt und von dem es nur weiß, dass es als „Chaotisches“ oder „Mannigfaltiges“ in ihm existiert (Schmitz, 2017).

      Dies führt in diesem Kapitel zuletzt zu Fragen der Erkenntnistheorie unter solchen Bedingungen. Entsprechend dieser Grundannahmen kann der Weg vom Bewusstsein, von der Wahrnehmung über das Lernen bis hin zum ,Wissen‘ (als ein Festhalten von Bewusstseinsinhalten) nur über phänomenologische, (meta-)hermeneutische und sozialkonstruktivistische Verstehensweisen erfolgen, die den subjektiven Erfahrungs- und Deutungsmöglichkeiten des Menschen keine objektivierende Diagnostik entgegenstellen – in der Terminologie des Verfahrens: über „diskursive Hermeneutik“ (Petzold, 2017a).

      Es ist trivial, dass mit der Darstellung geisteswissenschaftlicher Haltungen immer auch Weltanschaulichkeit transportiert wird. Menschen gewinnen ihre Anschauung meist aus traditionellen, kulturellen und religiösen Werthaltungen und Zeitgeistströmungen – bei Psychotherapeutinnen müssen wissenschaftliche Überzeugungen hinzukommen. Alle diese von Foucault so genannten „Diskurse“ beinhalten jedoch deterministische und tendenziell entmündigende Auffassungen, je nachdem, wie weit man an sie glaubt. Eine philosophische Weltanschauung muss es dabei wagen, sich immer wieder auf die eigene Vernunft zu stellen, sie wird alle hergebrachten Meinungen versuchsweise bezweifeln und darf nichts anerkennen, was ihr nicht persönlich einsichtig und begründbar ist (Scheler, 1929; Petzold, 2014e, f). Hierzu soll dieser Abschnitt beitragen.

      Im Text verwende ich aus pragmatischen Gründen immer wieder die Termini „wir“ oder „der Mensch“ oder „man“ oder „das Subjekt“. Damit nehme ich eine gewisse Prekarität in Kauf, denn der Einschluss aller Subjekte in eine einzige Aussage ist genau genommen nicht statthaft. Leserinnen und Leser sollten für den Fall, dass sie sich unter eine Aussage nicht subsummiert wissen wollen, sich dieser souverän entziehen. Weibliche und männliche Artikel verwende ich in derselben Weise, in lockerer, intentionaler Folge.

      In der westlichen Welt erleben wir eine Zeit des erst allmählichen Zurückgehens von Vermeidung und Verdrängungen der Erfahrung leiblicher Existenz. Dabei ist die stereotype Art und Weise, wie die Begriffe von Körper und Seele bis vor kurzem gedacht wurden, nicht erst mit dem cartesianischen Denken entstanden. Die Herabsetzung leiblicher Existenz war schon in Platons Metaphysik impliziert, in der nicht die Gegenstände der Sinneserfahrungen die Wirklichkeit abbildeten, sondern deren maßgebliche Urbilder, die „vollkommenen Ideen“ (Vonessen, 2001). Diese Herabsetzung wurde danach lange Zeit in der christlichen Leibfeindlichkeit tradiert, bevor René Descartes zwischen einer denkenden und einer ausgeweiteten Substanz (res cogitans und res extensa) unterschied und diese Differenz als Grundlage des neuzeitlichen wissenschaftlichen Denkens festsetzte (Descartes, 2009 [1641], 79f.).

      Dadurch kam es im Deutschen zu einem Bedeutungswandel von dem älteren Begriff des Leibes zu dem des Körpers. Derweil verschwand in der Transzendentalphilosophie (Kant) der Begriff des Leibes fast vollständig. Erst durch Arthur Schopenhauer (1819; Die Welt als Wille und Vorstellung), Friedrich Nietzsche (1883; Also sprach Zarathustra) und die neuere Phänomenologie in Frankreich (Marcel, Lévinas, Sartre, Merleau-Ponty, Henry, Derrida) und in Deutschland (Husserl, Buytendijk, Plessner, Schmitz, Petzold, Böhme, Fuchs, Waldenfels) wurde der Begriff des Leibes, dem noch immer eine religiöse Konnotation anhaftet, in eine andere und erweiterte Bedeutung gefasst.

      Diese Bewegung wurde forciert einerseits durch die cartesianische Spaltung, andererseits durch die neuzeitliche Wahrnehmung der Faktizität von Leiblichkeit, eine unhintergehbare und unaufhebbare Konkretheit des Menschen in seiner eigenleiblichen Wahrnehmung, seiner ökologischen Welt- und Selbsterfahrung. Die globale Bedrohung der Leiblichkeit durch Umweltzerstörung, Krieg und Atomrüstung dürfte in diesem Prozess eine Rolle gespielt haben (Beck, 1986, 2008). In den Entwürfen der Phänomenologie suchte man einen kraftvollen Ausdruck, der der cartesianischen Spaltung etwas Wirksames entgegenzusetzen hatte – dieser fand sich im Leibbegriff (Petzold, 1986).

      Insofern der frühzeitliche Mensch, zu Zeiten Platons Ideenlehre, den Körper als Materie, als Gefäß oder Fahrzeug für die Seele verstand und die Seele als eine den Körper gebrauchende Instanz‘, entfernte er sich vom einheitlichen Leiberleben, sah im schwer zugänglichem Dunklen seiner Leiberfahrungen, in dessen diffusem, irrationalen Wollen eine Art Gegenspieler der Seele oder des Geistes. In der Konstruktion verschiedener Instanzen sind der Alpdruck der Natur und der Versuch seiner Verdrängung zu finden. Auch wenn es unter den Stoikern, etwa mit Hierokles (Inwood, 1984), Philosophen gab, die bereits in die neuzeitlichen Richtungen eines „Selbstbesitzes und der Zugehörigkeit“, sogar eines „Bei-sich-zuhause-Seins“ (griech. oikeiosis) dachten, schlug diese Angst vor dem Leiblichen erst mit der Renaissance in eine wissenschaftliche Erkundung und Entdeckung des Körpers im heutigen Sinne um (Böhme, 1985).

      Was man hier im Wortsinn ,ent-deckte‘, ist aber nicht der eigene, lebendige Leib, sondern der Körper des Anderen, ein Körperding, das sich dem ärztlichen Blick preisgibt. Der Körper wird als Maschine konzipiert, die sich über verschiedene Organe und Stoffwechselvorgänge am Leben erhält. Dafür sind Transportsysteme (Blut, Lymphe), Informations- und Steuerungssysteme (Nerven, Gehirn, Hormone), Austauschsysteme (Haut, Immunsystem), reproduktive Systeme (Geschlechtsorgane) und Bewegungssysteme (Gelenke, Muskeln) vonnöten. Innerhalb dieser zergliedernden Vorstellungen werden gleichzeitig mögliche therapeutische Zugangsweisen zum Körperlichen festgelegt. Der Stoffwechsel muss versorgt und reguliert, die Transportsysteme müssen beschleunigt oder gebremst, in die Steuerungssysteme muss eingegriffen, die Immunsysteme müssen unterstützt, die Bewegungssysteme trainiert oder apparativ substituiert werden (ebd., 117).

      Die Verwissenschaftlichung des Körpers zeigt sich hier als die radikalste Verdrängung des subjektiv Leiblichen. Wahrnehmungen und Zeugnisse des eigenleiblichen Spürens, die sich durch das anatomische Wissen nicht mehr deuten lassen, werden als bloße Epiphänomene in die Seele oder ins Geistige abgedrängt.

      Dabei sind es bezeichnenderweise leibliche Phänomene, die zur Aufnahme einer ärztlichen oder psychologischen Behandlung führen: Unwohlsein und Schmerzen. In cartesianischer Sicht sind Schmerzen Begleiterscheinungen‘, Korrelate nicht funktionierender Systeme, ihre Ursachen werden im Körperlichen gesucht, auch im Rahmen psychischer Symptomatik. Die primäre leibliche Anmutung und das Auf-sich-zusprechen-Lassen des Schmerzes werden als unsinnig gedeutet. Psychosoziale Aspekte von Krankheit, seien sie verursachender Natur oder deren Folgen, werden marginalisiert oder in eine Wechselwirkung