Charakteristisch für die Auslösung von Lust und Begehren ist somit die erotische Begegnung, der oder die Andere, der oder die einem ,etwas sagt‘, das man nicht sofort versteht, daher sich angezogen fühlt. Insofern ist die erotische Begegnung ein Ereignis. Im Sinne Badious (2015b) zeitigt ein Ereignis Folgen, die bis dahin undenkbar waren. Das Subjekt erfährt seine Geschlechtsleiblichkeit im Ursprung relational durch das Widerfahrnis des Hingezogenseins. Erst später kann das Begehren durch Erinnerung, Repräsentationen oder Mentalisierungen auch subjektiv ausgelöst werden. Es entstehen Regungen und Wallungen und aus diesen formiert sich die Liebesempfindung mit ihren (immer) biografisch getönten Vorstellungen und Erwartungen. Über das Thema der Liebe wird später noch zu sprechen sein. Obwohl untrennbar, soll hier zunächst der Schwerpunkt auf die leiblichen Erfahrungen der Lust gesetzt werden.
Schon in der Kindheit, erst recht in der Jugend fühlt das Leibsubjekt sich von lustvollen Empfindungen überfallen, sie ,machen was mit einem‘, was man nicht mehr allein steuert. Das ist größtenteils schön, manchmal aber auch beängstigend. In Pubertät und Adoleszenz ist man Prozessen ausgesetzt, in denen sich ein irreversibler leiblicher Gestaltwandel vollzieht, der sich nicht steuern lässt. Die eigenleibliche Wahrnehmung von Jungen und Mädchen zeigt sich als teilweise sehr differente Erfahrung. Aufgrund dieser Differenz und der zuvor schon jahrelangen entwicklungspsychologischen Geschlechterapartheid können Jugendliche im Beginn ihrer ersten Erotik eigentlich gar nichts miteinander anfangen – Erfahrungen und Interessengebiete liegen zu weit auseinander –, so dass sie ihrem Impuls nur folgen können, indem sie sich direkt leiblich aufeinander einlassen, sich der Selbsttätigkeit des Leibes überantworten.
Lust, Begehren und Sexualität haben ihren Ursprung in der Erfahrung der Natürlichkeit‘ des eigenen und des Geschlechtsleibes des anderen, es ist die Reverie, die Offenheit für die Selbsttätigkeit der Erfahrung, dass sich Lebendiges in ,mir‘ regt. Leibliche Lust nährt sich aus der Emphase, in der man sich mitreißen lässt, die einen in die Präsenz für sich und den anderen hineinreißt, bis zur Erfahrung einer Erfüllung, in der man „den eigenen Leib vom Leib des anderen her empfängt“ (Marion, 2013), denn im Spüren des Anderen spürt man auch sich. Nancy und van Reeth (2016) stellen die Lust in diesem Zusammenhang als ein Verlangen dar, das Getrenntsein zu überwinden – besser noch: es zu durchqueren, denn eine letztendliche Überwindung ist nicht in Sicht. Erst so wird verstehbar, weshalb der Mensch immer wieder von Neuem dem Anlauf seiner Lust zustimmt und ihr folgt. In der „Verflüssigung“ des Körpers in der Lust sehen Nancy und van Reeth die Symbolik und den Wunsch der Liebenden, die Form zu verlieren, in einen Bereich der Formlosigkeit zu gelangen (ebd., 67).
In keiner einzigen anderen Tätigkeit oder Verrichtung lässt sich die leibliche Präsenz in derselben Weise steigern wie in der Lust, und nichts zeigt sich in einer solchen Intensität und Bedeutsamkeit. Innerhalb der leiblichen Liebe ist der Orgasmus eine Gipfelerfahrung, in der der Leib – im Sich-selbständig-Machen – gewissermaßen vollkommen Natur wird. Daher die Freude am eigenen und am Leib des Anderen. Daher die Unmöglichkeit, Erfüllung im Gleichen, in der Konfluenz zu finden. Getrenntsein und Differenz müssen bestehen bleiben, damit die Liebe „von anders woher“ kommend erlebt werden kann (Marion, 2013). Die Liebe als ein Festhalten des Schönen, als Missverständnis der Machbarkeit, Herbeiführbarkeit oder als konsumatorisches Programm ist hier nicht gemeint. Das Fremde, der Andere ist Stachel für das eigene Selbst und Ausgangspunkt der Lust in einem Zuge (Sartre, 1936; Baudrillard, 2016; Nancy & van Reeth, 2016; Mahnkopf, 2019).
Lust entsteht nicht aus einem Mangel, wie Freud (1999b [1923]) meinte, und auch nicht aus einem autochthon zu verstehenden Verlangen oder Begehren, das sich zu entladen trachtet, sondern als affektive Reaktion auf die Anmutung von außen, vom Anderen her, selbst dann noch, wenn dieser Andere nur der eigenen Vorstellung oder Erinnerung entspringt. Ihr entgegengesetzt ist auch nicht die Unlust, sondern der Schmerz. Während nun der Schmerz eine Fluchttendenz begründet, löst die Anmutung durch den Anderen eine Daseinslust aus, die sich in sich selbst zu steigern versucht. In dieser Emphase stimmt man dem eigenen Dasein vollkommen zu, man gibt sich hin oder hat sogar den Impuls, sich vollständig auszuliefern. Diese Tendenz schließt eine Zustimmung zum Schmerz mit ein (Böhme, 2017, 140). Das ist mehr und etwas anderes als Triebbefriedigung. So ist die leibliche Liebe, als gemeinsame Lust, da zu sein, auch nicht etwas, das man ,macht‘, sondern etwas, das sich in einem selbst und zwischen den Liebenden vollzieht.
Man liebt oder man begehrt, was man selbst nicht ist. Und das bezieht sich bei Weitem nicht nur auf die körperlichen Geschlechtsmerkmale. Die Irrationalität der Partnerwahl, das sinnliche und geistige Angezogensein von einem ganzen Ensemble berauschender Wahrnehmungen, die man nicht mehr in Worte fasst, spricht hier für sich (Frank, 1980). Die Vernunft weigert sich, bis dahin zu gehen, wohin die Liebe geht, nicht etwa, weil sie die Schwächere wäre, sondern weil sie merkt, dass sie hier nicht gebraucht wird (Marion, 2013). Und die Erfahrung, dass die Liebe in dieser paradoxen Weise Differenzen transzendieren kann, ist eine der tiefgründigsten überhaupt. Ungezählte Lieder, Gedichte, Märchen, Theaterstücke und Dramen besingen diese Erfahrung. Dies alles führt aber höchstens affirmativ in die Illusion einer Verschmelzung, vielmehr führt es in die leibliche Erschöpfung. Im Höhepunkt der leiblichen Liebe erfährt man notwendig die Unmöglichkeit weiterer Steigerung, aus diesem Moment heraus spricht Jean-Luc Marion (2013) seinen vierten Satz der Liebe: „Noch mal!“
Dies alles gilt möglicherweise auch für homosexuelle und geschlechtsdissidente Menschen. Es muss weiterer Forschung (Degele, 2008) überlassen bleiben, inwieweit etwa Homosexuellen der „Stachel der Differenz“ durch „das Andere“ fehlt oder erspart bleibt, anders ist die oder der Andere ja auch, wenn sie oder er dasselbe Geschlecht hat. Und die Präferenzen der Partnerwahl auf geistig-psychischer Ebene dürften auch dieselben sein. Die besondere Differenz der sexuellen Zwischenleiblichkeit bei BDSM verdient Beachtung; bei vielen anderen Gruppen können Fragen erst ahnungsweise beantwortet werden (Landweer et al., 2012). Auch hinsichtlich der Reproduktivität sind in unserer Gesellschaft und Zeitepoche plurale Möglichkeiten geschaffen worden. Am Ende wird es Aufgabe der Philosophie sein, positivistische Befunde aus der empirischen Zergliederung wieder in die Erfahrbarkeit des Menschlichen zurückeinzubetten.
Reproduktivität und Elternschaft
Die Sexualität wird in den meisten Kulturen nicht bloß als eine Sache des Individuums gesehen. Viele gesellschaftliche Institutionen, etwa die Familie, unmittelbare soziale Umgebungen, Kirche und Arbeitgeber bis hin zum Staat sind an der Reglementierung von Liebe und Sexualität interessiert. Je nach Kultur und Zeitepoche wurde der Lichtstrahl dieser beiden Lebens- und Erfahrungsbereiche als Intimsphäre zum Teil gewaltig gebrochen (Jullien, 2014b). In europäischen Traditionen wurde dieses Problem mit kirchlicher und sozialer Moral, Heiratstraditionen und gesellschaftlich durch das Reglement der Ehe gelöst – also auch unterdrückt. Das nimmt nicht weiter wunder, stellt man in Rechnung, mit welcher chaotischen, subversiven und anarchischen Wucht und Irrationalität Liebe und Sexualität in das Leben einbrechen können. George Bataille (1994) verstand das erotische Begehren überhaupt nur als eine Akkumulation versagter Anmutungen.
Bis vor Kurzem wurden Ehe und Familie noch als Grundbausteine der Gesellschaft betrachtet (Fellmann, 2005). Wenngleich nicht verzichtbar, so werden diese Funktionen heute vielfach durch abstrakte Strukturen der Ökonomie und Kommunikation zusammengehalten. Die Sexualität ist freier geworden, gerät aber mit ihren entgrenzten Möglichkeiten in die Nähe konsumatorischer Bedürfnisbefriedigung. Annäherung, Spiel, Erotik und Verführung sind über Social Media einer pornographischen Verfügbarkeit gewichen (Baudrillard, 2012; Han, 2017). Die Ehe steht im Ruf einer sozialen und gesellschaftlichen Kontrollfunktion, die Verzicht fordert und hybride sexuelle Optionen