Gender - Sprache - Stereotype. Hilke Elsen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hilke Elsen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846353028
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eigene Sprache auferlegten Gefängnis herauszukommen. Dies war jedoch gerade nicht im Sinne der Vertreter der Sapir-Whorf-Hypothese. Sie gingen vielmehr davon aus, dass die Beziehung zwischen Sprache und Denken eben eine relative ist und neue Sprachen, neue Strukturen, Wörter und Konzepte die bereits vorhandenen relativieren und erweitern.

      Die Versprachlichung bestimmter Inhalte zwingt die Menschen dazu, darüber nachzudenken. So ist es im Deutschen zunächst unwichtig, ob wir gerade oder grundsätzlich etwas tun, während im Englischen wegen der Unterscheidung she eats meat oder she is eating meat durchaus darüber nachgedacht werden muss, weil immer eines von beiden formuliert wird. Ebenso sind für Spanischsprachige die beiden Zeitangaben mañana und madrugada selbstverständlich zu differenzieren, also, ob der Morgen früher oder später ist. Im Deutschen ist das nicht in jeder Situation relevant, und dann können wir auch immer noch anhand einer Zeitangabe präzisieren, welchen Zeitabschnitt wir meinen. Auch räumliche Angaben lassen sich unterschiedlich ausdrücken, etwa relativ zur eigenen Person oder anderen Orientierungspunkten wie im Englischen oder Deutschen, vgl. links von, vor. Daneben gibt es absolute Referenzrahmen, beispielsweise die Beschreibung mithilfe von Himmelsrichtungen, vgl. „‚[t]here’s an ant on your south-east leg‘ or ‚Move the cup to the north-northwest a little bit‘“ (Boroditsky 2009: 121) in Pormpuraaw, Australien. Die Sprecher/innen dort müssen sich stets über ihre lokale Position im Klaren sein, was dazu führt, dass sie sich auch besser in unbekanntem Terrain zurechtfinden im Vergleich zu Sprecher/innen des Englischen oder Deutschen. Versuche ergeben, dass wir beim Erwerb einer neuen Sprache auch entsprechende kognitiveKognition, kognitiv Fähigkeit erlernen (Boroditsky 2009, dort weitere Beispiele). „In practical terms, it means that when you’re learning a new language, you’re not simply learning a new way of talking, you are also inadvertently learning a new way of thinking“ (Boroditsky 2009: 125). Weiterhin hat sich gezeigt, dass Sprecher/innen von Sprachen mit grammatischem Geschlecht ein stärkeres Genderbewusstsein entwickeln, was eine geschlechtsspezifische Voreingenommenheit nach sich zieht, sogar bei nicht belebten Objekten (Sato et al. 2017).

      Die theoretischen Annahmen zur Beziehung zwischen Sprache und Denken und Wirklichkeit lassen sich, verkürzt gesprochen, zusammenfassen in keine (UniversalismusUniversalismus), eine relative (RelativismusRelativität, sprachliche, Relativismus, Sapir-Whorf-Hypothese) und eine bestimmende (DeterminismusDeterminismus) Beziehung.

      In der Folge zeigten vergleichende Studien und psycholinguistischePsycholinguistik, -isch Experimente immer mehr den Einfluss der Sprache auf das Denken. Die sprachphilosophischen Überlegungen sind für die gesamte Debatte um AsymmetrienAsymmetrie in und durch Sprache grundlegend, weil die relativistische Sicht sprachliche, kulturelle und biologische Systeme durchlässig macht und für einander öffnet. Gleichzeitig aber werden auch sprachtheoretische Begründungen ins Feld geführt, um die Verweigerung von Änderungen zu rechtfertigen (vgl. Kap. 5.3.3, 5.5).

      4.2 Sprache, Macht, Manipulation

      Meinungslenkung erfolgt im Rahmen eines Geflechts aus Sprache und Klischees, denn neben dem unbewussten Tradieren von Stereotypen durch Sprache gibt es bewusst eingesetzte lexikalische und grammatische Strategien, die zum eigenen Nutzen verschweigen, verschleiern oder beschönigen. Eine Bezeichnung wie religiöse Gemeinschaft ist neutralNeutralform, während Sekte negativ wertet. Ein und dieselbe Person kann beschützenswert und harmlos als junge MutterMutter oder aber abwertend als Partygirl bezeichnet werden. Thibodeau/Boroditsky (2015) zeigen, wie die Wahl der Metapher in einem Zeitungsartikel die Einstellungen der Rezipient/innen zu Gewalt und den Umgang damit lenkt. Während bei „Crime is a VIRUS ravaging the city of Addison“ (ibd.: 4/22) die Versuchspersonen das Problem analysieren und mit Sozialreformen und besserer Schulbildung beheben möchten, wollen sie sich bei „Crime is a BEAST ravaging the city of Addison“ (ibd.) wehren, die Einsatzkräfte der Polizei verstärken und härtere Strafen verhängen. Gezielt aktivierte Konnotationen dienen der Assoziations- und Meinungssteuerung (Elsen 2009). Solche nicht neutralen Begriffe arbeiten über einen Text verstreut noch wesentlich intensiver. Es kommt zu einem komplexen Geflecht, das auch zwischen den Zeilen wirkt (vgl. auch Lakoff/Wehling 2008).

      Andererseits lassen sich aber auch eigentlich neutraleNeutralform Termini wertend verwenden. Wenn das oft genug geschieht, entwickeln sie die entsprechenden Konnotationen, also Zusatzbedeutungen, mit lexikalisiertem StatusStatus. Ehrlich/King (1994) zeigen, wie die Lexeme chairperson und spokesperson als gendergerechte Alternativen zu chairman und spokesman in den untersuchten Texten ausschließlich für Frauen gebraucht wurden und so ihre Aufgabe, genderneutral zu fungieren, verloren. Ms. als Parallele zu Mr. (anstelle von Miss vs. Mrs.) wurde teilweise nur für geschiedene Frauen verwendet. Statt also wie Mr. auf eine Bestimmung des Familienstands zu verzichten, zeigte Ms. eine dritte Möglichkeit an, und die (für Männer durchaus interessante) sprachliche Unterscheidung zwischen verheirateten und nicht verheirateten Frauen scheint sich zu halten.

      Um Texte zu verstehen, greifen wir neben dem lexikalisch-grammatischen auch auf unser Weltwissen zurück, denn Informationen stecken nicht nur in Wörtern und ihren Kombinationen, sondern zusätzlich in den Assoziationen, Metaphern und Interferenzen, die sich u.a. durch Stereotype aktivieren lassen. In dem Satz U. seufzte laut und lehnte sich fröstelnd an Manfred an können wir aus dem ersten Namen keine klaren Aussagen über das Geschlecht treffen. Da jedoch typischerweise Männer nicht so leicht frösteln wie Frauen, interpretieren wir U. als weiblich, obwohl es dort nicht steht. Wir nutzen die aus Erfahrung gewonnenen Wahrscheinlichkeiten, vgl. den folgenden Text, eine Anzeige, die eine Frau in einer Zeitung aufgibt:

      Vor Kurzem bekam ich einen kleinen Welpen geschenkt. Er ist noch ganz klein und so süß. Aber mein Mann ist gegen Hunde und Katzen allergisch, deswegen kann ich ihn leider nicht behalten. Wer ihn haben möchte, solle sich bitte bei mir melden. Er ist 30 Jahre alt, 1,70 groß und heißt Karl-Heribert.

      In diesem Text geben die PronominaPronomen er und ihn keine genauen Hinweise darauf, wer gemeint ist, da es zwei maskuline Referenten, Welpe und Mann, gibt. So sind die Leser/innen auf die Erfahrung angewiesen, die mit nicht behalten können typischerweise nicht auf Ehemänner zielt, wodurch der Bezug des Pronomens auf Welpe aktiviert wird. Die Leser/innen verstehen also ‚ich kann den Welpen nicht behalten‘. Der Schlusssatz wiederum zählt Eigenschaften auf, die sich nur schwer auf Hunde beziehen lassen, so dass dann doch mit ihn der Mann gemeint sein muss, denn Hunde sind wahrscheinlich nicht so groß, werden erfahrungsgemäß nicht so alt und heißen auch eher nicht Karl-Heribert. Von dem Effekt, dass zwei unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten aufeinandertreffen und die Frau ihren Ehemann abholen lassen will, lebt der Witz.

      Auf lexikalischer Ebene beeinflussen Wortspiele, Euphemismen, Synonymie, Polysemie oder verwandte Begriffe mit gezielt anderer Konnotation oder Denotation die Veränderung der Perspektive, vgl. Ermordung aller Juden vs. Endlösung, Freiheitskämpfer vs. Terrorist, Täter vs. Mörder. In dem Satz das Krebsgeschwür des FeminismusFeminismus verbreitet sich immer weiter wird über das erste Nomen, die Krebs-Metapher, das semantischeSemantik, -isch Netz zur bösartigen und häufig tödlichen Krankheit eröffnet und auf den neutralen Terminus Feminismus übertragen. Weiter kommen unnötige Übertreibungen vor, vgl. es herrscht ein absolutes Vertrauensverhältnis.

      Die Macht einzelner Wörter lässt sich am Beispiel der Begriffe Vergewaltigungsopfer und Vergewaltigungsüberlebende (rape victim, rape survivor) zeigen, ein Thema, bei dem es bedauerlicherweise auch zahlreiche männliche Opfer gibt. Hockett et al. (2014) führten verschiedene Experimente mit englischsprachigen Versuchspersonen durch. U.a. sollten Studierende fünf Charakteristika von rape victims und rape survivors benennen. Das Geschlecht wurde nicht erwähnt. Rape victims wurde zumeist assoziiert mit afraid, attractive, female, aber auch distrusting und young. Der Begriff rape survivors war sehr stark mit afraid und strong, weniger mit angry, distrusting oder depressed gekoppelt. Der Begriff ‚Vergewaltigungsopfer‘ ruft offenbar das Bild einer hübschen, eher schwachen Frau hervor. Außerdem ist rape victim häufiger mit Selbstverschulden und Machtlosigkeit assoziiert. Solche Personen werden auch mehr