Mit dem Versöhnungstag, der in der Zeit des Zweiten Tempels im Zentrum des herbstlichen Laubhüttenfestes (Sukkot), eines ursprünglich anlässlich der Weinlese begangenen Festes, steht, ist ein alttestamentliches Fest angeklungen, das in seiner Sprach- und Bildwelt zur Interpretation von Leben und Werk Jesu Christi von überragender Bedeutung ist. Ähnliches gilt für das im Frühjahr begangene Passah-(Mazzot-)Fest, das ursprünglich ebenfalls eine Orientierung an der Natur hat, einerseits in Gestalt eines zu Beginn der Gerstenernte gefeierten Festes (vgl. Lev 23,6–10; Dtn 16,1), andererseits als ein von Hirten am Vollmond mit einem dämonenabwehrenden Blutritus gefeiertes Vollmondfest, und sekundär mit dem geschichtlichen Handeln Jhwhs im Exodus verbunden wurde (vgl. Ex 12). So dient das Passah-Mazzot-Fest nach seiner deuteronomistischen und priesterschriftlichen Deutung der Erinnerung an die Befreiung aus Ägypten. In jedem Passah-Mazzot verwirklicht sich die Erfahrung der Freiheit, die sich zugleich zur Hoffnung auf eine endzeitliche Befreiung entwickeln kann, die im Bild eines neuen Exodus entfaltet wird (vgl. Jes 43,16–18).
Wenn im Neuen Testament das letzte Mahl Jesu als Passah-Mahl erscheint (vgl. Mk 14,12–26; Mt 26,17–30; Lk 22,7–23) oder Paulus Jesus Christus als Passah-Lamm bezeichnet (1Kor 5,7), dann wird die Passion Jesu zum neuen Exodus: Wie einst Israel aus Ägypten geführt wurde, so führt Jesus Christus aus der Knechtschaft der Sünde; wie Gott Israel einst aus der Sklaverei befreite, so befreite Gott Jesus Christus aus dem Tod. Damit ist die alttestamentliche Exodus-Typologie (s.o. 2.2.), die im Auszug aus Ägypten ein Vorbild |52|künftiger Erlösung Israels erblickt (vgl. Hos 2,17; 12,10; Mi 7,15; Jes 43,6), christologisch transformiert (vgl. Apk 15,3).
4.6. Gott als Lenker der Geschichte oder Jesus Christus im Spiegel alttestamentlicher Geschichtstheologien
In den Ausführungen zu Gott als Schöpfer, als segnendem, verheißendem und bewahrendem Begleiter Abrahams, Isaaks, Jakobs und Josefs sowie als Befreier, Führer und Lehrer seines erwählten Volkes Israel ist bereits das theologische Motiv angeklungen, dass Gott der Herr der Geschichte und als ʼel ʽôlām der Herr von Zeit und Raum ist (Gen 21,33; Jes 40,28; vgl. Sir 36,22 [HB]). In den auf die Tora folgenden Büchern der Geschichte und der Prophetie liegt diese Denkfigur breit entfaltet und mit vielerlei Facetten vor. Sie, die alttestamentliche Geschichtstheologie, bildet den eigentlichen Wurzelgrund der alttestamentlichen Messiasvorstellungen.
Im Hintergrund der historiographischen Entwürfe des Alten Testaments, sei es der umfassenden narrativen Kompositionen im Bereich der deuteronomistisch redigierten Königsgeschichte in den Büchern 1Samuel bis 2Könige (mit dem literarischen späten Vorbau der auch deuteronomistisch geprägten Bücher Josua und Richter), sei es der großen, überwiegend poetisch gestalteten Prophetenbücher (Jesaja, Jeremia, Ezechiel und das ursprünglich auf einer Rolle geschriebene Zwölfprophetenbuch), stehen die tief in das kulturelle Gedächtnis Israels eingebrannten historischen Krisenerfahrungen des Zusammenbruchs des Königreichs Israel 722/720 v. Chr. im Schatten der Westexpansion des assyrischen Weltreichs sowie die Eroberung und Zerstörung Jerusalems 587 v. Chr. durch die Neubabylonier. In beiden Fällen bewirkte die Auflösung der politischen und kultischen Ordnungen des Staates, dessen offizieller Kult dem Staatsgott Jhwh galt, bei den geistigen Eliten Israels und Judas einerseits eine grundlegende Reflexion der Macht Jhwhs, die in der Vorstellung der universalen Geschichtsmächtigkeit Jhwhs, der die Mächte der Erde zur Erziehung seines Volkes Israels benutzt, mündete, andererseits eine Darstellung der Geschichte Israels als eines linearen, von Jhwh nach den Prinzipien von Schuld und Strafe gestalteten Geschehensverlaufs. Dieser Verlauf ist sowohl in |53|der Endgestalt der Geschichtsbücher als auch der Prophetenbücher eschatologisch, mitunter verhalten messianisch geprägt (vgl. Beck 2006; Schmitt 2001c; 2010; Collins/Yarbro Collins 2008: 25–47); in den Prophetenbüchern trägt er auch apokalyptische Züge, wenn mit einer radikalen Veränderung der Welt nicht mehr in der Zeit, sondern jenseits dieser gerechnet wird (vgl. Jes 24–27; Dan 7–12; 1Henoch). Die israelitisch-jüdischen Geschichtstheologien im Alten Testament und die sich aus diesen (wie aus bestimmten weisheitlichen Traditionen) entwickelnde Apokalyptik, wie sie sich in nicht kanonisch gewordenen frühjüdischen Apokalypsen niedergeschlagen hat (Collins 1998), bilden einen wesentlichen Vorstellungshintergrund für die neutestamentliche Interpretation Jesu Christi als Teil und Ziel des göttlichen Handelns in der Geschichte bzw. in Zeit und Ewigkeit.
Im Rahmen der Darstellung der Geschichte des Königtums (1Sam – 2Kön), wie ihn vor allem deuteronomistische Redaktoren im 7./6. Jahrhundert v. Chr. unter Verarbeitung älterer Erzählzyklen und Hofgeschichten geschaffen haben, und in den prophetischen Büchern kommt einzelnen Figuren als paradigmatischen Werkzeugen Jhwhs zur Durchsetzung und Deutung seines Geschichtsplans eine besondere Relevanz zu. Auf diesen soll hier, alternativ zu einem Ansatz, der an der historiographischen und eschatologischen Erzählstruktur der Geschichts- und der Prophetenbücher orientiert ist, der Schwerpunkt liegen.
4.6.1. An erster Stelle sind die Könige zu nennen, die im königszeitlichen Israel wie auch sonst im Alten Orient, als von Gott selbst eingesetzte Herrscher, irdische Repräsentanten der göttlichen Ordnung, höchste Priester und Garanten von Gerechtigkeit und Wohlergehen des Staats betrachtet wurden (Ps 72; Klgl 4,20; Witte 2012b: 46–52). Wie in Mesopotamien und Ägypten konnte in Israel/Juda der König als »Sohn Gottes« bezeichnet werden (Ps 2; 110), wenn auch nicht in einem biologischen, sondern in einem adoptianischen Sinn (s.o. 3.4.), und mit göttlichen Attributen versehen werden (Ps 45; vgl. Collins/Yarbro Collins 2008: 1–24).
Eine israelitische und judäische Besonderheit ist der wohl unter hethitischem oder westsemitisch-kanaanäischem Einfluss entstandene|54| Inaugurationsritus der Königssalbung, mittels dessen dem König symbolisch Macht, Kraft und Ehre übereignet wurde (vgl. 1Sam 10,1; 16,1–13; 2Sam 2,4; 1Kön 1,34; 2Kön 11,12; Ps 89,21). Aus diesem Ritus resultiert die Bezeichnung des Königs als des Messias/Christus/Gesalbten (1Sam 24,7; Ps 20,7; Klgl 4,20; s.o. 3.1.). Mit der Salbung des Königs zum Messias Jhwhs wird funktional dessen besondere Zugehörigkeit zu Gott ausgedrückt, was sich im Motiv der Verleihung des göttlichen Geistes an den Gesalbten widerspiegelt (1Sam 16,13; Feldmeier/Spieckermann 2011: 214–221). Die Funktionalität des Messias-Titels zeigt sich auch in der singulären Kennzeichnung eines nichtisraelitischen Herrschers, des Perserkönigs Kyros (II., etwa 590/580–530 v. Chr.), in Jes 45,1 – bezeichnenderweise in einem Text, der erst aus der Zeit nach dem Untergang des Königtums in Juda stammt (Schmid 2002: 186; 195).
Neben der Salbung der Könige kennt das Alte Testament vereinzelt auch die Salbung von Propheten (1Kön 19,16 Elisa als Nachfolger [Elias]; Jes 61,1, vgl. CD-A II,12; VI,1), wobei es sich hier nicht um einen historisch verifizierbaren Akt, sondern um eine theologische Qualifikation handelt, und – durchgehend in Texten aus nachmonarchischer Zeit – von Priestern, zumal des Hohepriesters (Ex 28,41; 29,1–3 bzw. Lev 4,3; 6,15; Num 35,25; Dan 9,25f.), der in der Zeit des Zweiten Tempels immer mehr die Rolle des früheren judäischen Königs übernimmt. Einmalig erscheinen in einem ebenfalls aus nachköniglicher Zeit stammenden Geschichtspsalm (Ps 105,9–15 par. 1Chr 16,16–22) die Erzväter als Gesalbte, was wie ihre Titulierung als Propheten (vgl. Gen 20,7) die besondere Zuordnung zu Jhwh ausdrücken soll und motivgeschichtlich eine späte Ausstaffierung mit einem religiösen Ehrentitel darstellt.
In der israelitisch-judäischen Königsideologie und ihrer Rede vom jüdischen König als dem (jeweils gegenwärtigen) Messias Jhwhs liegt die entscheidende Wurzel für die sogenannten Messiaserwartungen im Alten Testament und vor allem in der frühjüdischen Literatur. Diese richten sich an einen zukünftigen und endgültigen idealen König, einen »Sohn Davids«, der die voll realisierte Herrschaft Jhwhs auf Erden bringen wird.
Für die Herausbildung der Erwartung solch eines (königlichen) Messias im engeren oder eigentlichen Sinn sind religionsgeschichtlich|55| drei Faktoren verantwortlich: erstens die Grundstruktur der altorientalischen Königsideologie, die immer ein Moment des Zukünftigen, noch nicht Realisierten und Utopischen enthält (»präsentischer Messianismus«, Waschke 2001: 167), zweitens die reale Spannung