Gewissermaßen als Gegenpol zu dieser kritischen Weisheit, wie sie im Alten Testament vor allem durch die Bücher Hiob und Kohelet repräsentiert wird, tritt in fortgeschrittener hellenistischer und römischer Zeit mit Jesus Sirach und der Sapientia Salomonis eine Weisheit, die geschichtliches und damit auch eschatologisches Denken aufnimmt (vgl. Sir 44–49; SapSal 10–19), das Böse als notwendiges Gegenstück zum Guten verstehen lehrt (Sir 33,7–15), eine Brücke zur Tora schlägt, insofern letztere als Inkarnation der kosmischen Weisheit erscheint (Sir 24), und die einen Ausblick auf die Unsterblichkeit des leidenden Gerechten wagt (SapSal 2–3). Der Gott dieser späten Weisheit ist in Weiterführung der deuteronomistischen und deuterojesajanischen Vorstellungen der eine und einzige Gott, der mittels seiner Weisheit, die in der Tora als dem Gesetz des Lebens Gestalt gefunden hat (Sir 17,11 [G]; 45,5), die Welt in den Händen hält und den Gerechten den Weg in das Leben – diesseits und jenseits der Todesgrenze – weist, weil er selbst das Leben liebt (SapSal 11,26).
Das Gottesbild, wie es sich aus den Logien, Gleichnissen und |64|Seligpreisungen Jesu ergibt, Jesu Stilisierung als leidenden Gerechten, als weisen Lehrer und als göttliche Weisheit, die ihre Schüler ins Leben ruft (Mt 11,28–30; Lk 7,34f.; 1Kor 1,30), seine Einschreibung in einen geheimnisvollen Plan Gottes (Röm 11,33–36) und das Motiv seiner Präexistenz (1Kor 8,6; Joh 1,18) verdanken sich zu weiten Teilen der alttestamentlichen Vorstellung von Gott als dem Herrn der Weisheit. Diese selbst gründet tief in einem von Ägypten bis Mesopotamien und Griechenland nachweisbaren Weltordnungs- und Gerechtigkeitsdenken.
5. Zusammenfassung
Das Neue Testament beschreibt Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi als Teil, mitunter als Mitte und Ziel der Geschichte des Handelns Gottes an Welt und Mensch. Es bedient sich dabei ausgiebig alttestamentlicher und außerkanonischer frühjüdischer Bilder, Motive, Denkmuster und Erzählstrukturen. Die alttestamentliche Wissenschaft erhellt deren literatur- und religionsgeschichtlichen Hintergründe und theologische Horizonte. Diese lassen sich nicht auf die Jesus Christus im Neuen Testament beigelegten Titel und Funktionsbeschreibungen eines Propheten, Königs, Davidssohns, Menschensohns, Erwählten oder Messias beschränken, sondern umfassen die Vielfalt des Leben stiftenden und bewahrenden Handeln Gottes in Raum und Zeit. So führt die theologische Frage nach Jesus Christus zur Frage nach dem Handeln und Wesen Gottes im Alten Testament, zur Reflexion seines schöpferischen, Geschichte mittels Begleitung, Befreiung, Belehrung und Heiligung lenkenden Wirkens sowie zur Interpretation der auch neutestamentlich prägend gewordenen Metaphern von Gottes Weisheit, Königsherrschaft, Hirtentätigkeit und Vaterschaft. Die Christologie bedingt damit die Darstellung von Grundzügen der Theologie des Alten Testaments. Die im Alten Testament versammelten Theologien der Schöpfung, der Geschichte, des Rechts und der Weisheit, die aus der Perspektive des Neuen Testaments in der raum-zeitlichen Fokussierung und Personalisierung auf Gottes Handeln in Jesus Christus ihr Ziel finden, sind so ein grundlegender Beitrag zur Rede von Jesus |65|Christus. Im Verbund mit der Theologie des Neuen Testaments bilden sie die Basis christlicher Theologie als Entfaltung des Sprechens vom Handeln Gottes in Jesus Christus.
Quellen-und Literaturverzeichnis
1. Quellen und Übersetzungen
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4Makkabäer: Klauck, Hans-Josef: 4. Makkabäerbuch (JSHRZ 3), Gütersloh 1989, 646–763.
Artapanos: Walter, Nikolaus: Fragmente jüdisch-hellenistischer Historiker (JSHRZ 1), Gütersloh 1976, 121–136.
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Jubiläen: Berger, Klaus: Das Buch der Jubiläen (JSHRZ 2), Gütersloh 1981, 275–575.
Lamm des Bokchoris: Hoffmann, Friedhelm/Quack, Joachim Friedrich: Anthologie der Demotischen Literatur (Einführungen und Quellentexte zur Ägyptologie 4), Münster 2007, 181–183.
Platon, Kratylos: Platon, Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, hrsg. von Gunther Eigler, Band 3, Phaidon, Das Gastmahl, Kratylos, bearbeitet von Dietrich Kurz, Sonderausgabe Darmstadt 1990.
Philo: Yonge, Charles Duke: The Works of Philo. Complete and Unabridged. New Updated Edition, Peabody, Mass. 20068.
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Septuaginta Deutsch: Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung, hrsg. von Wolfgang Kraus/Martin Karrer, Stuttgart 20102.
|66|Testament Rubens: Becker, Jürgen: Die Testamente der Zwölf Patriarchen (JSHRZ 3), Gütersloh 19802, 15–163.
Testament Simeons: Becker, Jürgen: Die Testamente der Zwölf Patriarchen (JSHRZ 3), Gütersloh 19802, 15–163.
Texte aus Qumran: García Martínez, Florentino/Tigchelaar, Eibert J.C. (Hrsg.): The Dead Sea Scrolls. Study Edition, Vol. 1–2, Leiden u.a. 1997–1998.
Töpferorakel: Gauger, Jörg-Dieter: Sibyllinische Weissagungen. Griechisch-deutsch. Auf der Grundlage der Ausg. von A. Kurfeß neu übersetzt und hrsg. (Sammlung Tusculum), Düsseldorf/Zürich 20022.
2. Sekundärliteratur
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Collins/Yarbro Collins 2008: Collins, John J./Yarbro Collins, Adela: King and Messiah as Son of God. Divine, Human, and Angelic Messianic Figures in Biblical and Related Literature, Grand Rapids, Mich./Cambridge UK 2008.
Day 1998: Day,