4.4.1. Nach der Darstellung der Exodus-Eisodus-Erzählung stellt die Herausführung der Israeliten aus Ägypten durch Jhwh das Gründungsdatum der Geschichte Israels dar. Zusammen mit der Offenbarung Jhwhs am Sinai erscheint der Exodus als ein Urbekenntnis Israels zu Jhwhs rettendem Handeln: Theologie ist hier Soteriologie. Dabei sind in der Schilderung des Exodus wie in der Vätergeschichte, neben zahlreichen nicht eindeutig zuzuordnenden literarischen Fortschreibungen, eine mehrschichtige nichtpriesterschriftliche (früher auf einen »Jahwisten« und einen »Elohisten« verteilte), eine priesterschriftliche und eine deuteronomistische Quelle sowie eine endredaktionelle, priesterschriftliche und deuteronomistische Elemente kombinierende Schicht mit jeweils charakteristischen theologischen Zügen greifbar.
Die für die Erhebung des Gottesverständnisses in der Exodus-Eisodus-Erzählung eigentümlichen theologischen Differenzen zeigen sich beispielhaft an den unterschiedlichen literarischen Stilisierungen des Mose. Im Zentrum der priesterschriftlichen Mose-Figurationen steht der Mittler zwischen Gott und Mensch: Mose ist der Repräsentant Jhwhs und Stifter des Kultes, der selbst |40|aber auch nicht sündlos ist (Num 20,1–12.22–29). Seine kultische Vermittlung ist nach priesterschriftlicher Vorstellung nötig, weil es keine unmittelbare Beziehung zwischen Gott und Mensch gibt. Die deuteronomistische Schicht betont das Stellvertretersein des Mose. So nimmt der (spät-)deuteronomistische Mose stellvertretend die Schuld seines Volkes, das heißt den beständigen Ungehorsam gegenüber dem Alleinverehrungsanspruch Jhwhs, auf sich (vgl. Ex 32,32; Num 11,11–17) und erhält das Prädikat eines einzigartigen Propheten (Dtn 18,15; 34,10). In den nichtpriesterschriftlichen und nichtdeuteronomistischen Texten kann Mose zum einen als charismatischer Führer (vgl. Ex 3,11; Num 11,24–25) erscheinen: Seine Tätigkeit ist auf die Betonung der Unverfügbarkeit und Transzendenz Gottes zentriert, wobei die personale Beziehung zwischen Gott und Mensch dadurch nicht aufgehoben ist. Zum anderen kann Mose als Ankündiger, Bote und Deuter (vgl. Ex 7,16–17) sowie Fürbitter (vgl. Ex 8,26) gezeichnet werden.
Alle genannten Aspekte der Mose-Figur fließen in der Endgestalt des Pentateuchs zu einem vielstimmigen Bild einer literarischen Biographie zusammen. Die Mose-Miniaturen in den späten Psalmen (Ps 105; 106) und im jüdischen Schrifttum der hellenistischen Zeit (Sir 45,1–5; SapSal 10,15–11,1; Artapanos; Philo, Mos.) steuern weitere Aspekte der Glorifizierung bei. Diese gipfelt – neben der Stilisierung als Schreiber der Tora, so dass sein Name zum Synonym für die Tora selbst werden kann (Mk 12,19; Lk 16,29.31; 24,27) – in seiner Kennzeichnung als »göttlichem Menschen« (θεῖος ἀνήρ/theios anēr) und in der Vorstellung eines in der Endzeit wiederkehrenden Mose (Mose redivivus) (vgl. Joh 1,21; 6,14; 7,40 vor dem Hintergrund von Dtn 18,15.18; Bousset/Gressmann 1926: 233; Jeremias 1942: 860–861; 871–878). Diese Mose-Bilder stehen im Hintergrund der zahlreichen Mose-Typologien und Mose-Antithesen, welche die neutestamentlichen Autoren im Rahmen ihrer Beschreibungen und Deutungen von Person und Leben Jesu entwerfen und die im Motiv von Jesus Christus als dem neuen Mose eine besondere Transformation erfahren (vgl. Mt 5–7; Mk 10,1–12; Apg 3,22; 7,37) (Saito 1977).
Zu den verschiedenen Mose-Bildern tritt das für die Theologie der Exodus-Eisodus-Erzählung charakteristische und für das |41|Verständnis der im Neuen Testament erzählten Machterweise Jesu wichtige Motiv der Wunder (hebr. ʼôt, niplāʼôt, môpet, »Zeichen«; griech. σημεῖον/sēmeion, θαυμάσιος/thaumasios), die Gott in den ägyptischen Plagen, der Rettung Israels am Schilfmeer und der Bewahrung Israels in der Wüste wirkt. Dabei sind in der priesterschriftlichen Schicht die Plagen eher »Beglaubigungszeichen« bzw. »Legitimationswunder« für die von Mose empfangene und von Aaron dem Pharao eröffnete Forderung Jhwhs. Sie dienen der Demonstration der Macht Jhwhs in Ägypten und lassen den Pharao als dessen Marionette erscheinen, der jenen mittels Verstockung in seinen Geschichtsplan einbindet (vgl. Ex 7,13.22; 8,15; 9,12). Demgegenüber sind in der nichtpriesterschriftlichen Schicht die Plagen stärker göttliche »Erzwingungswunder«, um den Widerstand des Pharao zu brechen und Jhwhs Gerechtigkeit zu beweisen, der den verstockten Pharao (vgl. Ex 7,23; 8,11.28) straft (Schmitt 2001a: 44–58). Ähnlich stilisiert die Priesterschrift in Ex 14,1–4.21.27 die Rettung der aus Ägypten ausziehenden Israeliten am Schilfmeer als Wunder und Herrlichkeitserweis Jhwhs, der sich dabei des Mose bedient, der das Meer spaltet, so dass Israel hindurchziehen kann (Schmitt 2001b: 209–213). Diese priesterschriftliche Darstellung vom geteilten Meer (vgl. Jos 4,21–23; Neh 9,9–11; Ps 74,13–15; 106,7–10.22; Jes 51,10–11; 63,12–13) geht religionsgeschichtlich auf eine Auseinandersetzung mit dem babylonischen Schöpfungsmythos zurück, demzufolge der Gott Marduk den Urmeer-Drachen Tiamat unschädlich gemacht hat, und spiegelt ein für die Theologie des Alten Testaments grundlegendes hermeneutisches Grundmuster der Interpretation einer geschichtlichen Erfahrung mittels des Rekurses auf den Mythos wider. In den neutestamentlichen Reflexionen über Jesus Christus begegnet dieses Muster, wenn das geschichtlich erfahrene Heilshandeln Gottes in Jesus Christus mittels des Motivs von dessen mythischer Macht über das Meer (Mk 4,35–41; 6,45–52) narrativ ausgestaltet und das Wunder als ein sich im Glauben erschließender Hinweis auf Gottes Handeln verstanden wird. In den nichtpriesterschriftlichen Teilen der Schilfmeererzählung dominiert die Betonung des alleinigen Rettungshandelns Jhwhs (vgl. vor allem Ex 14,13–14; 15,21b): Jhwh allein streitet als Krieger für sein Volk (vgl. Ex 15,3; Jes 40,10; 42,13), indem|42| er einen Ostwind kommen lässt, der die Wasser des Meeres zurücktreibt (vgl. Dtn 11,4; Jos 24,6–7; Ps 66,6; 114,3–5; Nah 1,4), und über die Ägypter einen Gottesschrecken fallen lässt. Theologisches Kennzeichen für die endredaktionelle Exodusschilderung sind die Stichworte »Geschichte« und »Befreiung«. So wird im Exodus Jhwh in einem einmaligen geschichtlichen Geschehen erfahren. Das Bekenntnis zu Jhwhs Sein als Gott erscheint als Bericht von seinem geschichtlichen Handeln. Ganz analog dazu trägt das Bekenntnis zu Gott im Neuen Testament eine narrative Struktur, indem dort die Geschichte Jesu Christi als Geschichte des Handelns Gottes erzählt wird.
Die Wüstenerzählungen, die literarisch die Sinai-Perikope rahmen, redaktionell die Themen »Exodus«, »Sinai« und »Eisodus in das Kulturland« ausschmücken und genetisch auf Lokaltraditionen unterschiedlicher Gruppen bzw. auf gezielte literarische Konstruktionen zurückgehen, kreisen um existentielle Bedrohungen Israels in der »Wüste« (Durst, Hunger, Feinde). Wesentliches pragmatisches Ziel ist die Darstellung des Wüstenvolks als Urbild Israels und des fürbittenden Mose als Beispiel des priesterlichen Fürbitters im Falle eines Schuldbekenntnisses. Die Wüste erscheint als Beschreibung der mit dem Untergang Israels 722/720 v. Chr. und Judas 587 v. Chr. eingetretenen exilischen Wirklichkeit, als Chiffre für das Exil und für die jüdische Diaspora sowie als Modellfall menschlicher und göttlicher Geschichte. Die Wüste ist so, theologisch betrachtet, ein wesentlicher Ort der Nähe und Ferne Gottes (vgl. Mk 1,12–13). Das zentrale Gottesbild der Wüstenerzählungen ist die Vorstellung von Jhwh als einem rettenden Kriegsgott, bewahrenden Schöpfergott und geleitenden Schutzgott.
Unabhängig von der Frage, wie Exodus-Eisodus und Sinaioffenbarung historisch zusammengehören, ergibt sich aus der Kombination beider Überlieferungselemente das theologische Konzept von einem »Heilsindikativ«, der dem »Heilsimperativ« vorausgeht: Durch Jhwh geschenkte Befreiung ist das Vorwort zu der von Jhwh gegebenen Unterweisung. Dem Exodus als Offenbarung Jhwhs als Befreier und Führer folgt am Sinai die Offenbarung Jhwhs als einzigartiger Gesetzgeber und Lehrer.
|43|4.4.2. Die Hauptmasse der Sinai-Perikope besteht aus den dem Mose am Gottesberg mitgeteilten, göttlich verordneten Geboten (Ex 25–31; 34–40; Lev; Num 1–10 u.v.a.), traditionell zusammengefasst unter dem Begriff »das Gesetz« (griech. νόμος/nomos, lat. lex). Den vielleicht ältesten Kern der Überlieferung – und die zugleich für die neutestamentliche Interpretation des Todes Jesu wichtigste Passage der Sinai-Perikope – bildet Ex 24 mit der Erzählung von einer