Box 2.4
Die Anzahl der Arten von fossilen Menschen: traditionelle Sicht
Die Anzahl der Arten, die die Gattung Homo bilden, ist unklar und langfristig instabil. Sie schwankt, je nach wissenschaftlicher Meinung, zwischen zwei (H.erectus und H.sapiens) und 10–15 (Abb. 2.4). Auf ein allgemein gültiges Artkonzept konnten sich die Biologen bis heute nicht einigen; (siehe Box 1.2); in der Paläontologie ist das Problem besonders ausgeprägt, denn über die Populationsbeziehungen unter ausgestorbenen Organismen wissen wir – bis auf wenige Ausnahmen – nichts. Und in der Paläoanthropologie ist es am schlimmsten, weil das Thema auch ideologischen Zündstoff enthält. Die Anzahl fossiler Menschenarten, die gegenwärtig in der paläoanthropologischen Literatur diskutiert wird, liegt etwas höher als die Artenzahl in anderen Gruppen von Säugetieren mit vergleichbarer Körpergröße. Es könnte sich dabei um ein taxonomisches Artefakt handeln, sozusagen um eine anthropozentrische Fehleinschätzung. Denn die Unterschiede zwischen Menschenpopulationen erscheinen uns, den Menschen, wahrscheinlich augenfälliger und damit „bedeutender“ als Unterschiede zwischen Populationen von, z.B. Kängurus. Die große Zahl fossiler Menschen könnte jedoch auch tatsächlich vorhandene spezielle evolutionäre Prozesse widerspiegeln (z.B. eine erhöhte Tendenz zur Artbildung aufgrund sexueller Selektion). Dies kann natürlich nicht entschieden werden. Es ist nichtsdestoweniger wichtig zu verstehen, dass die Evolution des Menschen (genauso wie die Evolution von was auch immer) die Form eines Baumes mit parallelen und langfristig koexistierenden Zweigen hat, nicht die Form einer Leiter.
Eine unmittelbare lineare Abfolge von Ahnen und Nachkommen, wie wir sie aus den Lehrbüchern kennen („Australopithecus-habilis-erectus-sapiens“), existierte nie. Im Gegenteil, während der gesamten menschlichen Evolution koexistierten mehrere sympatrische Arten, z.B. Ardipithecus + Australopithecus afarensis (3,4 mya), P.aethiopicus + H.habilis + H.rudolfensis (2,5–2 mya), P.boisei + H.habilis + H.ergaster (2–1,5 mya), Australopithecus sediba + H.habilis (2–1,75 mya), P.boisei + H.ergaster (1,5–1 mya) (Abb. 2.4). Dieser Sachverhalt setzte sich auch später noch fort, als verschiedene Arten der Gattung Homo gleichzeitig lebten. Er endete erst vor wenigen Zehntausend Jahren. Die gegenwärtige isolierte Existenz einer einzigen Art, H.sapiens, ist also erst unlängst entstanden und etwas durchaus Besonderes, das es so in der Vergangenheit nie gegeben hat. Es lässt sich nur noch darüber spekulieren, wie sehr unsere Art das Aussterben ihrer nächsten Verwandten förderte, während sie ihre eigene globale Dominanz aufbaute.
Wie wir bald sehen werden, fand in der Vergangenheit wahrscheinlich eine teilweise Hybridisierung dieser Arten (Arten?) statt. Dies steht im Widerspruch zur orthodoxen Artdefinition („die von anderen Arten reproduktiv isolierte Populationen“) und es könnte als ein Beweis interpretiert werden, dass Neandertaler usw. keine „guten“ Arten seien. Tatsächlich wissen wir heute, dass die teilweise Einkreuzung (Introgression) fremder DNA (oft mitochondrialer DNA) in das Genom einer anderen Art bei Tieren, einschließlich großer Säugetiere, relativ üblich ist – der Artstatus beruht folglich nicht darauf, dass sich Arten nicht kreuzen, sondern dass sie langfristig ihre Identität erhalten, selbst wenn sie sich kreuzen.
Box 2.5
Die Zahl der Arten fossiler Menschen: Dmanisi 2013
Neue Funde aus der Lokalität Dmanisi in Georgien deuten darauf hin, dass im Verlauf der letzten zwei Millionen Jahre auf der Erde nur zwei, dafür aber sehr erfolgreiche Menschenarten gelebt haben – Homo erectus und Homo sapiens. Georgische Funde, ursprünglich als „Homo georgicus“ beschrieben und in den Zeitraum des unteren Pleistozän datiert (ca. 1,8 mya), fungieren als Belege der ältesten menschlichen Besiedlung außerhalb von Afrika. Zum heutigen Tag wurden in Dmanisi fünf Schädel von „H. georgicus“ gefunden.
Der fünfte Schädel ist außerordentlich bemerkenswert, denn es handelt sich um den einzigen komplett erhaltenen Schädel aus diesem Zeitraum, wobei er in sich die Merkmale gleich mehrerer menschlicher Arten trägt: einen der afrikanischen Art H.habilis entsprechenden kleinen Hirnschädel (nur 546 cm3), massive Zähne wie der afrikanische H.rudolfensis und eine Gesichtsmorphologie, die an den eurasiatischen H.erectus erinnert. In Kombination mit den restlichen vier Schädeln liefert er erstmalig ein Zeugnis über die individuelle morphologische Variabilität einer ausgestorbenen lokalen Population ab. Hätten wir diese fünf Schädel (oder auch nur Einzelteile des fünften Schädels) an diversen Orten Afrikas, auch wenn in gleichaltrigen Schichten, gefunden, hätten wir dazu geneigt, diese Funde unterschiedlichen menschlichen Arten zuzuordnen. Wenn also die Schädel von Dmanisi wirklich nur einer Spezies gehören, dann hat es keinen Sinn, manche der bisherigen menschlichen „Arten“ zu unterscheiden. Nicht nur Homo ergaster und H.georgicus, aber vielleicht auch H.habilis, H.rudolfensis und H.floresiensis würden lokale Populationen von H.erectus darstellen, einer sehr erfolgreichen über zwei Millionen Jahre bestehenden Art, die in Afrika und Eurasien (von Spanien bis nach Indonesien) verbreitet war, und im Rahmen ihrer Verbreitungsareals natürlich sehr variabel.
Traditionell wird der ostafrikanische Homo habilis (2,3–1,4 mya) für den ältesten und ursprünglichsten echten Menschen gehalten (Abb. 2.7), berühmt vor allem als erster Hersteller und Nutzer der Oldowan-Steinwerkzeuge (Box 2.6, Tab. 2.2, Abb. 2.8). In der Zeit seiner Entdeckung, in den 1960er-Jahren, hatte man allerdings gerade erst begonnen, die reiche Kultur und Technologie des Schimpansen zu erforschen (vergleiche Kapitel 4.1), weshalb die Fähigkeiten von H.habilis heute weniger überraschend wirken. Alle Vorfahren des Menschen benutzten Steinwerkzeuge, genauso wie der gemeinsame Vorfahre von Schimpanse und Mensch. Darüber hinaus zeigte eine Neuanalyse der dem H.habilis zugeschriebenen „Werkzeuge“, dass es sich zumindest bei einigen von ihnen eher um Gastrolithe (Magensteine) von Krokodilen handelt.
Abb. 2.7: Schädel von Homo habilis. Sein Schädel stellt ein Beispiel für Mosaikevolution dar. Abgeleitete morphologische Merkmale (vergrößertes Gehirn, verkleinerter Gesichtsschädel, Rundung des Hinterhauptbeins) sind mit den für die Gattung Australopithecus typischen Merkmalen kombiniert.
Abb. 2.8: Typische Steinwerkzeuge der Altsteinzeitkulturen. Chopper (Oldowan), Faustkeile (Acheuléen, Moustérien, Micoquien) und Schaber und Steinspitze (Atérien).
Box 2.6
Steinzeitkulturen
Während die Paläontologie (wörtlich die „Wissenschaft von alten Wesen“) als Grenzwissenschaft zwischen der Geologie und Biologie rein naturwissenschaftlich orientiert ist, beschäftigt sich Archäologie (wörtlich Altertumskunde) als Grenzwissenschaft zwischen Geschichte und Biologie mit der kulturellen Entwicklung der Menschheit. Sie ist eher sozial- als naturwissenschaftlich orientiert. Im Fokus der Archäologie steht ausschließlich der Mensch (Gattung Homo) und hier insbesondere seine kulturellen Artefakte (also materiellen Hinterlassenschaften), wie etwa Werkzeuge, Kunstwerke usw. Daraus ergibt sich, dass die Archäologie einen Zeitabschnitt abdeckt, der „erst“ ca. 2,5 mya begann. Die Nomenklatur der archäologischen Abschnitte, die von den merklichen technologischen Unterschieden in der Werkzeugherstellung bestimmt wird, und die paläontologische Zeiteinteilung sowie die absolute Datierung werden in Tab. 2.2 verglichen. Die früheste Epoche der Menschheitsgeschichte wird durch die Überlieferung von Steinwerkzeugen (vergleiche Abb. 2.8) charakterisiert und entsprechend als Steinzeit bezeichnet. Die Steinzeit wird in drei Abschnitte (Alt-, Mittel- und Jungsteinzeit), die Altsteinzeit wiederum in drei Perioden unterteilt: Alt-, Mittel- und Jungpaläolithikum (von griech. lithos = Stein). Innerhalb der Perioden unterscheidet man je nach den vorherrschenden Artefakten (Industrien) bzw. Technologien unterschiedliche Kulturen. Diese werden nach dem ersten Fundort genannt. So leitet sich z.B. „Oldowan-Kultur“ von der Olduvai-Schlucht ab.) Die Gliederung und Datierung einzelner Epochen, Perioden und Kulturen ist regional unterschiedlich, die Zeitangaben in Tab. 2.2 sind also nur Orientierungshilfen.
Als ein typisches