Box 3.1
Der Rassenbegriff in der Biologie, Anthropologie und Politik
Mit dem Rassenbegriff hängen folgende Fragen zusammen: Kann man die Menschheit in einige wenige Gruppen (Typen) einteilen? Wie groß sind die Unterschiede zwischen diesen Gruppen? Wie sollte man diese Gruppen (falls es sie gibt) nennen? Kann man aus der Existenz der Einteilung in die Gruppen etwas über ihre Wertigkeit ableiten?
Die letzte Frage wurde durch rassistische Ideologien aufgegriffen, die aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse politische Folgen ableiteten, im Sinne, dass einige Rassen wertvoller sind als andere und das Recht oder die Pflicht haben, die „minderwertigen“ zu beherrschen oder sogar zu liquidieren. Der Rassismus kulminierte mit dem deutschen Nationalsozialismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Da deren Ideologien die menschlichen Gruppen als Rassen bezeichneten, haben sie den Begriff der Rasse diskreditiert. Man sollte also stets daran denken, dass Rassismus eine Ideologie und keine Wissenschaft ist, auch wenn oft pseudowissenschaftlich argumentiert wird.
Der Begriff Rasse wurde durch den französischen Naturforscher, Georges-Louis Leclerc de Buffon (1701–1788) in die Biologie eingeführt. Er nutzte diesen Begriff nicht im taxonomischen Sinne, sondern bezeichnete damit ganz allgemein eine Gruppe von Organismen, die beliebig festgelegte Eigenschaften miteinander teilten. Buffons Zeitgenosse und Rivale, Carl von Linné (1707–1778) teilte die Menschen in vier unterschiedliche geografische Unterarten ein – er hat sie aber nicht als Rassen bezeichnet. Sein Konzept beruhte auf einer Idealisierung und Verallgemeinerung, nicht auf der Realität. So definierte Linné in seiner Historia naturae (1758) Homo sapiens europaeus albus (also den weißen europäischen H.sapiens) unter anderem mit folgenden Merkmalen: blaue Augen und langes blondes Haar. Auch in seiner Heimat, Schweden, entsprachen jedoch bestimmt nicht alle Menschen dieser Beschreibung – Linné hat hier also einen metaphysischen Archetyp beschrieben und nicht die real existierende Vielfalt.
Erst die nachfolgenden Generationen haben das Konzept von Linné mit dem Buffonschen Begriff fusioniert und so den Begriff „Rasse“ kreiert, der bis in das 20. Jahrhundert regulär in der Anthropologie und Humanbiologie gebräuchlich war. Der Begriff Rasse war – im Sinne von Buffon – nicht begrenzt auf einzelne Kontinente, wurde aber auf eine beliebige Sprach-, Volks- oder Religionsgruppe angewandt („deutsche Rasse“, „jüdische Rasse“). Anfang der 1930er-Jahre wurde der Begriff zunehmend im populationsgenetischen Sinne verwendet. Letztlich fatal für den Begriff war schließlich der politische Missbrauch durch die nationalsozialistische Ideologie, wie aber auch andere rassistische Ideologien (ob in den USA, Südafrika oder anderswo). Da eine Politik den Begriff missverstanden und für ihre Zwecke instrumentalisiert hat, hat ihn die nachfolgende Politik auch missverstanden, in der Wissenschaft tabuisiert und an den Pranger gestellt. (Diese Entwicklung ist nicht überraschend und es ging besonders von Deutschland, den USA und den Ländern mit ehemaliger Kolonialherrschaft aus.)
Da der Begriff Rasse nun tabu, doch es weiterhin offensichtlich war, dass man die Menschheit in bestimmte Gruppen einteilen kann, wurde nach einem Ersatzbegriff gesucht. Erfolgreich hat sich letztendlich der Begriff Ethnie (Volk) durchgesetzt. Als Ethnie wird eine Gruppe von Menschen bezeichnet, denen eine kollektive Identität zugesprochen wird. Zuschreibungskriterien können Herkunftssagen, Abstammung, Geschichte, Kultur, Sprache, Religion, die Verbindung zu einem spezifischen Territorium sowie ein Gefühl der Solidarität sein. Die zugehörige Wissenschaft ist die Ethnologie (Völkerkunde). In diesem (eher Buffonschen als Linnéschen) Konzept liegt der Schwerpunkt der Differenzierung eher auf den kulturellen als auf somatophänetischen oder genetischen Unterschieden. Ethnologie wie auch physische Anthropologie der Nachkriegszeit konzentriert sich auch auf die lokalen bzw. regionalen Adaptationen, nicht auf die kontinentale Differenzierung.
Allerdings kann man die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, dass selbst jedes Kind, unabhängig auf welchem Kontinent oder in welchem Land, schnell erkennt, dass sich Menschen nach morphologischen Kriterien (anhand von Hautfarbe, Haartyp, Gesichtsform etc.) unterschiedlichen Typen zuordnen lassen. Dies ist natürlich auch Anthropologen und Populationsgenetikern bewusst. So hat der berühmte Populationsgenetiker Luigi Cavalli-Sforza die Rassen als natürliche Kategorien weiter benutzt. Er hat 1974 eine fließende Unterteilung in sieben Großgruppen vorgeschlagen: Afrikaner, Europäer, Nordostasiaten, Südostasiaten, Pazifikbewohner, Australier und Bewohner Neuguineas. Dies steht nicht im Widerspruch mit der Behauptung, dass L.Cavalli-Sforzas Werk stark antirassistisch geprägt ist (Box 4.7). Der nicht weniger renommierte Evolutions- und Populationsgenetiker Masatoshi Nei hat 1993 zusammen mit A.K. Roychoudhury die Einteilung der menschlichen Populationen in fünf Hauptgruppen vorgenommen: Negroide (Afrikaner), Kaukasoide (Europäer von Herkunft), Mongoloide (Ostasiaten und Pazifikbewohner), Amerinde (Indianer und Inuit) und Australoide (Australier und Papuaner).
Eine Rasse im populationsgenetischen und physisch-anthropologischen Sinne wird heute als eine Gruppe von Menschen verstanden, die durch langfristige gemeinsame Evolution verbunden ist, in deren Verlauf gemeinsame morphologische und physiologische Merkmale gebildet wurden. Diese Rassenklassifikation hat eine breite Anwendung in der Biomedizin, Archäologie, forensischen Anthropologie und Kriminologie. Allerdings sind die Übergänge zwischen den Populationen fließend, kontinuierlich und es gibt keine phänotypischen oder genotypischen Merkmale, die die einzelnen Typen eindeutig und zweifellos definieren würden. Daher gibt es auch keine eindeutige Definition menschlicher Rassen. Der berühmte US-amerikanische Evolutionsgenetiker Richard Charles Lewontin (geb. 1929) sprach sich 1972 gegen die Möglichkeit einer natürlichen Einteilung der Art H.sapiens in einige wenige Gruppen aus, in dem er gezeigt hat, dass die genetische Variabilität innerhalb einer, den traditionellen Rassen entsprechenden Gruppe sechsmal größer ist als zwischen den Gruppen.
Eine klassische Rassentheorie mit fest definierten und klar abgegrenzten Gruppen von Menschen wird durch die gegenwärtige Wissenschaft abgelehnt. Man kann jedoch wissenschaftlich von menschlichen Typen sprechen, die nachweislich mit ihrer Herkunftsregion koinzidieren, statt von empirisch festgestellten Konfigurationen von genetischen und physischen Eigenschaften von Individuen. Die Clusteranalyse hat z.B. nachgewiesen, dass sich die genetische Information (DNA) von Menschen, die in derselben geografischen Region leben, sehr ähnelt, wobei es an den Grenzen der Kontinente fließende Übergänge gibt. Zur Differenzierung von regionalen Populationsclustern reichen dabei nur ca. 40 geeignete genetische Merkmale. Die genetischen Daten sind im Einklang mit der Hypothese der afrikanischen Herkunft der Menschheit.
Ob wir diese Cluster als Rassen oder einfach nur als Gruppen bezeichnen (dürfen), ist eine andere Frage. Klar ist jedoch, dass die Bezeichnung „Ethnie“, die eher kulturzentrisch ist, nicht voll zutreffend ist.
Erst die verhängnisvollen Erfahrungen mit dem Rassismus des 20. Jahrhunderts führten dazu, dass das Konzept der menschlichen Polytypie an sich ausführlicher unter die Lupe genommen wurde. Es gibt keinen Zweifel darüber, dass der überwiegende Teil der Unterschiede zwischen den menschlichen Populationen und Ethnien (diese Begriffe sind manchmal im Einklang, manchmal auch nicht) nicht genetisch, sondern kulturell bedingt ist, und dass die meisten genetischen Unterschiede polymorph sind, d.h. sie betreffen Merkmale, die wir in unterschiedlichen (wenn nicht in allen) menschlichen Gruppen in unterschiedlichen Frequenzen finden. Auch das, was von der genetischen Diversität nach dem Abzug der individuellen Variabilität übrig bleibt, ist großteils von klinaler Natur und ändert sich graduell in Abhängigkeit von geografischen Beziehungen, sodass diese Diversität keine gute Basis für die Abgrenzungen der „Rassen“ bildet.
Die Evolution der Menschheit hat nicht die Form eines phylogenetischen Baumes, denn es kommt ständig zur Vermischung. Auch wenn wir ein paar evolutionäre Einheiten („Rassen“) abgrenzen, ist kaum ein Individuum ein „reiner“ Vertreter irgendeiner dieser Einheiten. Zwei zufällig ausgesuchte Menschen unterscheiden sich in 3–10 Millionen Basenpaaren (~ 0,1–0,3% des Genoms); 85% dieser Unterschiede finden wir innerhalb