Die Entdeckung von Sahelanthropus (2002) war eine Sensation, weil er die Widerlegung zweier Dogmen nahelegt. Er war älter als die angenommene Molekulardivergenz zwischen Mensch und Schimpanse. In dem Falle könnte er aber nicht der Vorfahre des Menschen sein, es sei denn, er würde die Molekulardatierung widerlegen (in der Tat liegt er eher am Rande des aus den damaligen Molekulardaten hervorgehenden Zeitbereichs, vergleiche Kapitel 2.1.1). Und zweitens wurde er westlich des Grabenbruchs gefunden, wo theoretisch die Vorfahren der Schimpansen, nicht aber die des Menschen leben sollten. Trotz der Tatsache, dass er kein Savannenbewohner war, kann man aus gewissen Schädelmerkmalen (dem Winkel zwischen der Linie der Schädelbasis und der Linie des Gesichtsschädels, und aus der Position des Hinterhauptlochs) auf bipede Fortbewegungsweise schließen.
Der jüngere, und biogeografisch weniger überraschende Orrorin hinterließ – im Unterschied zu Sahelanthropus – auch Reste seines postkranialen Skeletts. Sie zeigen, dass es sich auch um eine bipede (vielleicht arborikole) Form handelte.
2.2 Australopithecina (Australopithen)
An der Basis der Menschenlinie, beginnend mit der Zeit vor 5,5 Millionen Jahren, finden wir mehrere afrikanische Formen der Vormenschen, die den Gattungen Ardipithecus, Kenyanthropus, Australopithecus und Paranthropus zugeordnet werden. Es ist evident, dass sie keine phylogenetisch einheitliche Gruppe bilden, sondern eine heterogene Gruppierung von Arten darstellen, von denen jede einzelne unterschiedlich nah mit der Gattung Homo verwandt ist. Anders gesagt: Die Gattung Homo entstand innerhalb der Australopithen und stellt nur eine ihrer Untergruppen dar. Einige Australopithen koexistierten lange mit der Gattung Homo.
2.2.1 Ardipithecus
Zwei Arten, Ardipithecus kadabba (5,6 mya) und A.ramidus (4,5 mya), beide aus Äthiopien, stellen eine sehr frühe und ausdrücklich abweichende Form tertiärer Vormenschen dar: Rekonstruktionen, die auf der Untersuchung einer großen Anzahl von Individuen beruhen, weisen ein überraschendes Mosaik von primitiven und stark abgeleiteten Merkmalen auf. Ihre Fortbewegungsweise beruhte auf einer primitiven Bipedie, die mit einer ausgeprägten Arborealität verknüpft war (wie sie sich z.B. in der opponierbaren Großzehe widerspiegelt). Sie kannten allerdings keine Brachiation (Armschwingen von Ast zu Ast nach Art der Gibbons) und vermochten nicht, vertikal zu klettern. Aber sie gingen eben auch nicht auf ihren Fingerknöcheln (knuckle walking) wie es die Schimpansen machen (einer der erstbeschreibenden Autoren von Ardipithecus formulierte dazu: „If you wanted to find something that moved like these things, you’d have to go to the bar in Star Wars“). Diese Art der Bipedie, ohne die weiteren Anpassungen, über die der heutige Mensch verfügt, war offensichtlich energetisch nachteilig. Daher kann man über andere, z.B. soziale oder reproduktive Vorteile spekulieren. Während der Fuß von Ardipithecus auffällig primitiv war, war seine Hand überraschend modern, vom menschlichen Typ, was verschiedene Hypothesen zweifelhaft erscheinen lässt, nach denen die Greifhand mit verlängertem, opponierbaren Daumen, der eine Feinmanipulation von Objekten erst ermöglicht, eine fortschrittliche menschliche Anpassung sei. Der Schädel von Ardipithecus war klein, ähnlich dem Schädel von Sahelanthropus, und ähnelte weniger den Schädeln von Menschenaffen oder Australopitheken; das Gesicht war auffällig flach, der Kiefer kurz. Ein sehr markantes Merkmal der Ardipitheken war ihr geringer Geschlechtsdimorphismus in Körpergröße und Eckzahnlänge, was auf geringe Konflikte unter den Männchen hinweist.
Das Studium des Ardipithecus zeigt deutlich, dass die naive Vorstellung eines „Übergangsgliedes“ (oder arithmetischen Durchschnitts) zwischen Schimpanse und Mensch (oder Australopithecus) nicht stimmig ist. Weiterhin wurde bestätigt, dass ein altes Fossil nicht unbedingt primitiv sein muss. Die abgeleiteten „menschlichen“ Merkmale (Lokomotion, Anatomie der Hand, Reduktion der Eckzähne) erschienen bereits am Anfang der menschlichen Evolution. Es handelt sich also nicht um Anpassungen, die mit der Herstellung und Nutzung fortschrittlicher Werkzeuge zusammenhängen. Darüber hinaus zeigt sich, dass Schimpansen kein geeignetes Ausgangsmodell sind, um Überlegungen über den Anfang der Evolution des Menschen anzustellen.
Bemerkenswert ist, dass wir viele „menschliche“ evolutionäre Neuheiten auch bei dem Menschenaffen Oreopithecus bambolii aus dem Miozän (Fundort Italien) finden. Bei diesem Primaten handelt es sich aber nicht um einen nahen Verwandten des Menschen, sondern um einen den Dryopitheken verwandten basalen Hominoiden. Aber gerade dies zeigt, dass die Evolution der menschlichen Linie durch parallele oder konvergente Evolution vernebelt ist.
2.2.2 Australopitheken
Australopitheken waren üblicherweise klein (120–140 cm), mit kleinem Hirnvolumen (430–530 cm3), vollkommen biped (wenngleich auf eine Art, die sich von der Bipedie des modernen Menschen wahrscheinlich unterschieden hat) (Abb. 2.5). Sie waren überwiegend herbivor, teilweise arborikol und ausgeprägt sexuell dimorph, zumindest ausgeprägter als Schimpansen und moderne Menschen. Wir sollten uns bewusst sein, dass aus der Tatsache, dass jemand in die menschliche Linie gehört (und nicht in die der Schimpansen), nicht automatisch folgt, dass er dem Menschen ähnlicher ist als einem Schimpansen.
Abb. 2.5: Körpergröße einiger Hominiden im Vergleich.
2.2.2.1 Australopithecus
Die gegenwärtige Literatur kennt sechs Arten von Australopithecus, die äthiopischen Arten A.anamensis (3,9–4,2 mya), A.afarensis (2,9–3,9 mya, unter anderem die berühmte „Lucy“) und A.garhi (2,6 mya), weiterhin A.bahrelghazali (3,6 mya) aus dem Tschad, und die südafrikanische Arten A.africanus (2–2,9 mya) und A.sediba (1,9–2 mya) (Abb. 2.6).
Abb. 2.6: Schädel von Australopithecus afarensis. Der Schädel war niedrig, robust, mit ausgeprägten Überaugenwülsten, breiten Jochbögen und mächtigem Unterkiefer ohne Kinn.
Phylogenetisch gelten wohl A.anamensis und A.afarensis als basale Vertreter der Menschenlinie, die sich gleich nach dem Ardipithecus abgespalten haben, wobei A.anamensis eher der Vorfahr oder die Schwesterart von A.africanus ist. A.africanus ist bereits näher mit den Gattungen Paranthropus und Homo verwandt, während A.sediba unmittelbar mit der Gattung Homo verwandt sein könnte (vielleicht sogar mehr als der klassische „Urmensch“ H.habilis). Die Stellung der Arten A.garhi und A.bahrelghazali ist unsicher. (A.garhi steht vielleicht näher bei Paranthropus; A.bahrelghazali ist möglicherweise nah verwandt zu A.afarensis.)
Eine rätselhafte Art bleibt Kenyanthropus platyops (Kenia, 3,2–3,5 mya), welche nur anhand eines sehr beschädigten Schädels beschrieben wurde und phylogenetisch wohl zwischen den Gattungen Australopithecus (wahrscheinlich wieder A.afarensis) und Homo einzuordnen ist.
2.2.2.2 Paranthropus
Die zweite Gruppe von Australopithen, die sogenannten robusten Australopitheken, werden heute üblicherweise in die selbständige Gattung Paranthropus eingeordnet. Hierzu zählen drei Arten, P.aethiopicus (Kenia und Äthiopien, 2,7–2,5 mya), P.boisei (Kenia und Tansania, 2,6–1,2 mya) und P.robustus (Südafrika, 1,2–2 mya), möglicherweise auch die fragliche Art A.garhi. Alle repräsentieren einen besonderen und sehr abgeleiteten Nebenast der menschlichen Phylogenese. Sie illustrieren die Tatsache, dass die „Menschwerdung“ in der Evolution der Hominina kein allgemeiner Trend war.
Paranthropen waren relativ große bipede Herbivoren, die vielleicht zumindest teilweise auf harte pflanzliche Nahrung (Knollen, Wurzeln, Samen, Gräser usw.) spezialisiert waren. Sie wiesen einen ausgeprägten Geschlechtsdimorphismus auf, der eine „gorilla-artige“ Haremslebensweise indiziert. Trotz ihrer Abweichung vom „Weg zum modernen Menschen“ waren es erfolgreiche Arten, die erst relativ spät ausgestorben sind. P.robustus und P.boisei koexistierten zweifellos noch mit H.ergaster.
2.3 Basale Arten