Aber die Anzahl der Arten wächst heutzutage vor allem deshalb, weil das theoretische Artkonzept sich verändert hat (Box 1.2). Vereinfacht können wir dies folgendermaßen zusammenfassen: Eine klassische biologische Art, wie wir sie aus den Lehrbüchern kennen, ist eine Populationseinheit, in der sich die Individuen unbeschränkt untereinander kreuzen können, während sie von anderen Populationseinheiten reproduktiv isoliert sind (wodurch wir dann von mehreren Arten sprechen). Die Mängel dieser Auffassung sind offensichtlich – manche Organismen pflanzen sich vegetativ fort und kreuzen sich gar nicht. Und von vielen anderen wissen wir üblicherweise nicht, ob sie sich kreuzen könnten bzw. gekreuzt haben oder nicht. Populationen, die sich nie begegnen (z.B. nah verwandte Formen auf den Inseln eines Archipels), werden vom biologischen Artkonzept gar nicht gedeckt: Vielleicht würden sie sich erfolgreich verpaaren, fänden sie räumlich zueinander.
Eine Alternative bietet die phylogenetische Art, also eine Gruppe von Populationen, die miteinander verbunden sind durch ein universell verbreitetes Merkmal (egal ob morphologisch, ethologisch, molekular), das gleichzeitig nirgendwo anders vorkommt. Eine Art ist vor allem durch ihre Eigenschaften diagnostizierbar – was zu einer Art gehört und was nicht, erkennt man durch das Studium (oft ein sehr ausgeklügeltes Studium) der jeweiligen Individuen, nicht durch Populationsstudien, die bei den meisten Arten nicht möglich sind.
Eine ansteigende Artenzahl bringt notwendigerweise auch eine zunehmende Anzahl bedrohter Arten mit sich. Neue Arten, die dadurch entstanden sind, dass Biologen sie als „neu“ erkannt und von alten Arten abgespalten haben, besitzen naturgemäß kleinere Populationen und kleinere Verbreitungsareale und sind daher auch stärker bedroht als die alten Arten. Es zeigt sich somit, dass die biologische Vielfalt stärker bedroht ist, als wir bisher befürchten mussten, weil unsere Kenntnisse über die Biodiversität ungenügend waren.
Die unkritische Anwendung der mitochondrialen DNA zur Abgrenzung neuer Arten, führt oft zu Ergebnissen, die im Widerspruch zu den auf den Genen des Zellkerns beruhenden Interpretationen stehen. Die Anwendung der Morphometrie, also das Ausmessen und Bestimmen morphologischer Merkmale, die für die Artdiagnose als sinnvoll erscheinen, ist ebenfalls problematisch. Oft nämlich werden morphometrische Analysen in ihrer Aussagekraft belastet durch zu kleine Stichproben, welche die innerartliche Variabilität naturgemäß nur ungenügend widerspiegeln.
Die in der Literatur angegebenen Artenzahlen sollte man daher (und nicht nur im Hinblick auf die Primaten) unter Vorbehalt betrachten: Madagaskarhalbaffen (Lemuriformes) mit fast 100 Arten, afroasiatische Halbaffen (Lorisiformes) mit 30 Arten, Koboldmakis (Tarsiiformes) mit 11 Arten, südamerikanische Affen (Neuweltaffen, Platyrrhini) mit über 150 Arten, afroasiatische Affen (Cercopithecoidea) mit über 160 Arten, Gibbons (Hylobatidae) mit 19 Arten und „Große Menschenaffen“ (Hominidae) mit 7 Arten (Abb. 1.4). Obwohl in historischer Zeit keine Primatenart ausgestorben ist (jedenfalls nach den Kriterien der IUCN), gibt es eine Reihe subfossiler Arten, die nach dem Kontakt mit modernen Menschen (und bestimmt oft auch durch deren Verschulden) ausgestorben sind. Hierzu gehören mehrere bizarre Halbaffenarten aus Madagaskar und auch einige Menschenarten, die wir in den nächsten Kapiteln besprechen werden. Aus der gegebenen Übersicht wird die auffällige Artenarmut der rezenten Hominidae, zu denen auch der Mensch gehört, ersichtlich.
Abb. 1.4: Phylogenese, Taxonomie und Nomenklatur der Überfamilie Hominoidea.
1.2 Hominoidea (Menschenartige)
1.2.1 Merkmale
Zu den Menschenartigen zählen die größten Primaten. Ihr Gewicht schwankt zwischen 4 Kilogramm (Gibbons) und bis zu 200 Kilogramm (männliche Gorillas). Die Zerebralisation ist fortgeschritten. Sie haben einen flachen Brustkorb und verlängerte Arme. Dank des verlängerten Schlüsselbeins und des weiter rückenseitig angebrachten Schulterblattes ist die Beweglichkeit der Oberarme sehr gut entwickelt. Menschenartige besitzen 5–6 Lendenwirbel und ein Steißbein anstatt der Schwanzwirbelsäule; ein Schwanz fehlt. Pränatale und postnatale Entwicklung haben sich gegenüber anderen Primaten (und anderen Säugetieren sowieso) weiter verlangsamt. Die unteren Molaren weisen fünf, die oberen vier Höcker auf (Abb. 1.5).
Abb. 1.5: Unterer Backenzahn (Molar) der menschenartigen Primaten. Dargestellt sind die fünf Zahnhöcker.
1.2.2 Fossile Formen
Mit dieser kurzen Übersicht sind wir der Entstehung des Menschen schon näher gekommen. Die „Überfamilie“ Hominoidea (Menschenartige oder auch Menschenaffen im weiteren Sinne), zu der auch die Gattung Homo gehört, ist ca. 20–25 Millionen Jahre alt. Die grundlegende Aufspaltung in Gibbons (Hylobatidae) und „große Menschenaffen“ (Hominidae) fand ca. 18–20 mya im Erdzeitalter des Neogen statt (Abb. 1.6).
Abb. 1.6: Kladogramm der Gruppe Hominoidea mit dem geschätzten Zeitpunkt der Abspaltung einzelner phylogenetischer Linien.
Die Phylogenese der Hominoiden ist, was die Stellung fossiler Formen im Stammbaum/Kladogramm betrifft, nicht ausreichend bekannt. Man kann grob zusammenfassen, dass von der Basis der Menschenaffen, im Tertiär, mehrere separate, vorwiegend afrikanische Linien abzweigen (Tab. 1.3, Abb. 1.6 und 1.7). Als älteste Menschenaffen werden üblicherweise die Vertreter der Familie Proconsulidae (mit mehr als zehn Arten, ca. 20 mya) oder auch Morotopithecus aufgefasst. Letzterer teilt mit den heutigen Menschenaffen mehr morphologische Merkmale, obwohl er etwas älter als Proconsul ist (Abb. 1.8). Kurz danach erscheinen die Gibbons, mit den fossilen eurasiatischen Gattungen Dryopithecus, Oreopithecus oder Pierolapithecus, die vielleicht dem gemeinsamen Vorfahren heutiger Menschenaffen nahe standen. Ihnen folgen zwei bis in die Gegenwart reichende Evolutionslinien: eine asiatische (Orang-Utans plus die fossilen Gattungen Sivapithecus, Lufengpithecus, Gigantopithecus u.a.) und eine afrikanische (Gorillas, Schimpansen, Menschen und ihre nächsten Verwandten). Zur Gattung Sivapithecus gehören auch die Formen, die früher als selbstständige Gattung Ramapithecus (ca. 14 mya) klassifiziert und als die ältesten Vertreter der menschlichen Linie betrachtet wurden.
Die Radiation der Hominoidea, also die sich von einem gemeinsamen Vorfahren abspaltende (auffächernde) Entstehung vieler neuer Arten, ist der Radiation der Geschwänzten Altweltaffen (Cercopithecoidea, Meerkatzenverwandte) vorausgegangen, sodass die Menschenartigen im Miozän den Großteil der Affen darstellten. Man darf sich dies aber nicht so vorstellen, als hätten damals Gibbons und Gorillas die Urwälder dominiert. Heutige Hominoiden sind relikte und seltsame Formen, während die fossilen Hominoiden meistens „gewöhnlich aussehende“, wenngleich schwanzlose, Affen waren. Diese alten Hominoidea wurden durch den Anstieg der Zahl von Meerkatzenverwandten (Cercopithecoidea) verdrängt.
Tab. 1.3: Übersicht über die bekanntesten Fossilien der Menschenaffen, ihre Fundorte und die Zeiträume ihrer Existenz.
Gattung | Fundort | mya |
Aegyptopithecus | Ägypten | 37–31 |
Morotopithecus | Ostafrika | 21 |
Proconsul | Ostafrika | 14–21 |
Sivapithecus | Indien | 13–7 |
Pierolapithecus | Spanien | 13 |
Lufengpithecus | China | 12–8 |
Dryopithecus | Frankreich, Spanien, Ungarn | 11,5–10 |
Chororapithecus | Ostafrika | 10,5–10 |
Nakalipithecus | Ostafrika | 9,9–9,8 |
Samburupithecus | Ostafrika | 9,5 |
Ouranopithecus | Griechenland | 9,4–8,8 |
Oreopithecus | Italien | 9–7 |
Gigantopithecus | China | 1–0,5 |
Abb. 1.7: Kladogramm der Gruppe Hominoidea unter Berücksichtigung der fossilen Formen. Rezente Gattungen in blau.