Regionalentwicklung. Tobias Chilla. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tobias Chilla
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Математика
Год издания: 0
isbn: 9783846345665
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Region(en) verliefe letztlich positiv.

      Das Stehaufmännchen symbolisiert, dass vorübergehende wirtschaftliche ‚Schräglagen‘ am besten ohne Eingreifen überwunden werden: Nach kurzer Unruhe wird automatisch das Gleichgewicht erreicht (Abb. 9). Je mehr man versucht, das aktiv zu beeinflussen, desto länger dauert es. Dies verweist auf die ‚unsichtbare Hand‘ des Marktes, die aus dieser Perspektive einem staatlichen Intervenieren im Prinzip vorzuziehen ist. Diese unsichtbare Hand hat allerdings wichtige Aufgaben, indem sie kartellartiges Handeln (Preisabsprachen, Monopolbildung) zu verhindern und – zumindest in gewissem Ausmaß – die Infrastruktur zu sichern hat, mit der die Mobilität von Arbeit und Kapital überhaupt möglich ist.

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      Abb. 9 Stehaufmännchen als Metapher der neoklassischen Ökonomie (verändert nach Várkonyi & Domokos 2006)

      Dieses Gleichgewichtspostulat meint nicht, dass sich langfristig räumliche Gleichheit herausbildet: Im Gegenteil, Konzentrationsprozesse wirtschaftlicher und siedlungsgeographischer Art sind durchaus erwartet, denn räumliche Konzentration ist ein wichtiges Kennzeichen von Effizienz. Ein Gleichgewicht wird aber insofern erwartet, als dass Arbeitslosigkeit und Betriebsaufgaben keine räumlich fixierten Probleme sind bzw. bleiben.

      Aus dieser Perspektive wäre die steuernde, staatlich lenkende Regionalentwicklung also sehr weit zurückzufahren. Allenfalls Rückbaustrategien für entleerte Gebiete und Mobilitätsbeihilfen wären zu sichern, um bei extremen Strukturwandelprozessen Übergänge zumindest rudimentär zu gestalten. Ein solcher Ansatz wird unter dem Begriff der ‚passiven Sanierung‘ diskutiert.

      In Europa sind kaum Fälle der passiven Sanierung zu finden, auch wenn der britische Staat sich in Regionen der Deindustrialisierung deutlich zurückhaltender gezeigt hat (z. B. in der Region Liverpool) als dies in Deutschland (z. B. im Ruhrgebiet) erfolgt ist. In den USA hingegen wird regionalen Krisen kaum mit Mitteln der Regionalentwicklung entgegengesteuert. Das prominenteste Beispiel ist wohl die Region Detroit, die durch den Niedergang der dortigen Automobilindustrie weit mehr als die Hälfte der Einwohner seit den 1950er-Jahren verloren hat und im Jahr 2013 als Stadt Konkurs anmelden musste, was unter anderem zu einer Art Schuldenschnitt führte. In Europa hingegen ist der Konkurs von subnationalen Gebietskörperschaften politisch kaum vorstellbar und rechtlich auch nicht möglich.

      Die Kritik an dem Gleichgewichtspostulat in der Regionalentwicklung ist vielstimmig: Zum einen ist umstritten, inwieweit empirische Fälle jeweils als Belege gelten können: Ist Detroit ein Gegenbeleg des Gleichgewichtspostulats, oder sollten nicht die weiteren Konsolidierungsentwicklungen abgewartet werden ? Aktuelle Untersuchungen finden hier Anzeichen einer an Einfluss gewinnenden Kreativwirtschaft (Kullmann 2012). Auf der anderen Seite: Die milliardenschweren Investitionen in das Ruhrgebiet – lange in Form von Steinkohlesubventionen, dann in die Inszenierung der Industriekultur – haben demographische und wirtschaftliche Abwärtstrends nicht verhindern, sondern allenfalls abschwächen können. Regionale Fallbeispiele sind nie als ganz eindeutige Beweise für oder gegen das Gleichgewichtspostulat verwendbar (s. aber Zademach 2014: 75 f.).

      Neben dieser empirischen Diskussion ist eine ethische Diskussion zu führen, indem die räumliche Chancengerechtigkeit im Mittelpunkt steht (Weiteres siehe Kap. 3.2). In Übergangsphasen, in denen Regionen sich in der passiven Sanierung befinden, ist die Herstellung einer Chancengerechtigkeit für alle Bewohner in der Praxis eine große Herausforderung (z. B. im Hinblick auf die schulische Ausbildungsqualität).

      Die Gegenthese zum Gleichgewichtspostulat geht davon aus, dass Entwicklungen zur Polarisierung tendieren. Eine wichtige Wurzel dieser Debatte findet sich beim britischen Ökonom John Maynard Keynes (1883–1946), der mit seinen Arbeiten die keynesianische Perspektive begründet hat. Keynes hat auf volkswirtschaftlicher Ebene argumentiert und ein Eingreifen des Staates in Krisenzeiten gefordert. Die Polarisationstheorie hat in den 1950er-Jahren dann diese Perspektive weiterentwickelt im Hinblick auf den regionalen Maßstab und eine räumlich differenzierte Betrachtung (Myrdal 1957). Demnach kann ein negatives Ereignis in einer Region – z. B. die Schließung eines großen Betriebes – leicht zu weiteren Negativentwicklungen führen und gar in einer Abwärtsspirale münden (s. Abb. 10). Dabei kann eine ganze Branche und eine ganze Region in Mitleidenschaft gezogen werden. Um übertriebene und gefährliche Entwicklungen zu vermeiden, ist in dieser Denkschule ein rechtzeitiges Eingreifen der öffentlichen Hand vonnöten.

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      Abb. 10 Abwärtsspirale der keynesianischen bzw. polarisationstheoretischen Sicht

      Umgekehrt kann ein positives Geschehnis, z. B. eine bedeutende Unternehmensansiedlung, auch einen dauerhaften Aufwärtstrend auslösen. Diese Annahme liegt zugrunde, wenn in strukturschwachen Gebieten oder auch in Entwicklungsländern Großinvestitionen getätigt werden, in der Hoffnung einen Impuls zu setzen, der sich langfristig und großräumig auswirkt.

      Die keynesianische Sicht, die hier zugrunde liegt, vertraut in die Kompetenz und Wirksamkeit staatlichen Handelns. Während in der makroökonomischen Diskussion vor allem der Investitionszeitpunkt im Konjunkturverlauf diskutiert wird (sog. deficit-spending zu dem Zeitpunkt, wenn krisenbedingt ohnehin wenig Einnahmen zur Verfügung stehen), so ist auf der regionalen Ebene der räumliche Bezug gewissermaßen paradox: Es soll dort staatlich investiert werden, wo es nicht gut läuft; in den prosperierenden Teilräumen kann er sich zurückhalten.

      Die Kritik auch an diesem Ansatz ist mannigfaltig: Staatliche Steuerungsmaßnahmen könnten demnach Prozesse des Strukturwandels verzögern und Innovationen letztlich verhindern. Staatliches Handeln hat eine recht lange Vorlaufzeit – zwischen dem Eintreten einer Krise, der Organisation des keynesianischen Handelns (wie z. B. einem Investitionsprogramm für Infrastruktur) bis zum Eintreten der Wirkungen können Jahre vergehen und an der Problemstellung vorbeizielen. Darüber hinaus wird kritisiert, dass staatliches Eingreifen stets der Gefahr ökonomischer Ineffizienz unterliegt, da es mit hohen Verwaltungskosten, z. B. für die Erhebung von Steuern und Überwachung der Ausgaben verbunden ist.

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      Abb. 11 Betriebsschließung bei wichtigstem Arbeitgeber einer prosperierenden Region – Reaktionsmöglichkeiten aus Perspektive des Gleichgewichts- und des Polarisationspostulats (verändert und ergänzt nach Braun & Schulz 2012: 109)

      Am Rande sei vermerkt, dass die Polarisationstheorien in einigen Punkten Nähe zur neomarxistischen Perspektive haben (z. B. die Regulationstheorie). Diese geht davon aus, dass Trends dazu neigen, sich zu verschärfen, vor allem im negativen Sinne. Im Unterschied zu den Polarisationstheoretikern halten neomarxistische Denker dies aber nicht für ein Krisensymptom, das mit staatlicher Intervention zu heilen ist. Sie halten dies vielmehr für wesentliches Kennzeichen kapitalistisch organisierter Staaten. Diesen wird zugeschrieben, dass sie auf sogenannten Akkumulationsregimen beruhen, die sich aus der Organisation der Produktion und Kapitalflüsse ergeben. Diese Akkumulationsregimes führen langfristig zwingend zur Überakkumulation, also zur Krise. Diese kann vorübergehend überwunden werden, indem eine räumliche oder institutionelle Expansion der Akkumulationsregimes erfolgt: Die Globalisierung wird als ein solcher Expansionsschub gedeutet. Die zunehmend weltweite Organisation von Wirtschaftsprozessen ermöglicht Akkumulationen von Kapital, die in einem vor allem nationalstaatlich organisierten Wirtschaftssystem nicht möglich wären. Ein Beispiel ist die Immobilienwirtschaft, die durch Finanzialisierung der Branche eine Internationalisierung und spekulationsbasierte Umsatzerhöhung erreicht hat. Ein Platzen von Finanzblasen wie 2008 in den USA lässt sich insofern als Überakkumulation deuten, die am Ende nicht zu vermeiden ist (Aglietta 1976, Hirsch & Roth 1986, Moulaert & Swyngedouw 1989, Ipsen 2002 und 2006, Ossenbrügge 2011). Eine Entwicklung (auf regionaler oder internationaler Ebene), die Überakkumulationen und Systemkrisen vermeidet, wäre in dieser Sichtweise nur außerhalb der markwirtschaftlichen, kapitalistischen Staatsorganisation vorstellbar. Hier besteht der wesentliche