Im Konstruktivismus werden Normen eher hinterfragt als eigens formuliert. Das Hinterfragen und in diesem Sinne Dekonstruieren von etablierten ‚Wahrheiten‘ ist eine häufige Zielsetzung dieser Perspektive. Auch das Aufzeigen von alternativen Entwicklungen kann hierbei ein Ziel sein: Dies bezieht sich beispielsweise darauf, wie Verfahren der Regionalentwicklung chancengerecht gestaltet werden können (Kühne 2011a und b, Kühne & Meyer 2015), d. h. Möglichkeiten zur verstärkten Einbindung von Personen aufzuzeigen, die in Regionalentwicklungsprozesse gemeinhin wenig eingebunden sind. Bereits dieses Beispiel verdeutlicht das Verhältnis zwischen einer konstruktivistischen Regionalwissenschaft und Bewohnern einer Region: Da Konstruktivisten davon ausgehen, dass ‚Wahrheit‘ das Ergebnis eines sozialen Aushandlungsprozesses ist und nicht im ‚Wesen‘ einer Region liegt oder es Ziel von Forschung sei, eine Region ‚wirklichkeitsgemäß‘ empirisch zu erfassen, begreifen sie die Interessen von anderen als grundsätzlich legitim.
Der konstruktivistische Blick auf Regionalentwicklung hat in den vergangenen Jahren stark an Bedeutung gewonnen und schreibt sich dabei ein in einen wichtigen Trend in den raumbezogenen Wissenschaften, der häufig als relational turn bezeichnet wird. Die Bedingtheit von raumbezogenen Entwicklungen durch Diskurse, Institutionen, Pfadabhängigkeiten, Machtkämpfe usw. wird in der internationalen Literatur sehr breit diskutiert (für viele Amin 2004, Murphy et al. 2015, Allmendinger et al. 2015). Dies lässt sich auch in weiteren Subdisziplinen der raumbezogenen Wissenschaft nachzeichnen wie beispielsweise in der (relationalen) Wirtschaftsgeographie (Bathelt & Glückler 2012). Tab. 2 fasst die grundlegenden Unterschiede der drei Ansätze knapp zusammen (s. z. B. Kühne 2013).
Wir haben nun die unterschiedlichen Arten der Regionsabgrenzung angesprochen (funktional, administrativ und diskursiv) – und soeben unterschiedliche konzeptionelle Perspektiven auf den Regionsbegriff reflektiert. Die erstere Debatte ist eher technischer, alltagsweltlicher Art; die zweite ist eher wissenschaftstheoretischer Art. Die beiden Debatten argumentieren insofern auf einem sehr unterschiedlichen Abstraktionsniveau, aber sie sind eng verbunden (s. Tab. 3):
Tab. 3 Abgrenzungsmöglichkeiten von Regionen und dominierende wissenschaftstheoretische Sichtweisen | |||||
Form der Regionalisierung | |||||
Homogen | Funktional | Administrativ | Diskursiv | ||
Dominierendes Wissenschaftsverständnis | Essentialismus | x | |||
Positivismus | x | x | (x) | ||
Konstruktivismus | (x) | x |
Die essentialistische Perspektive bezieht sich meist auf das Homogenitätsprinzip (Dialekte, Hausformen etc.).
Die positivistische Perspektive operiert in der Regel mit funktionalen Argumenten. Dies erfolgt in der Praxis häufig innerhalb von statistisch-administrativen Räumen (z. B. Wirtschaftsentwicklung auf NUTS-2-Ebene), kann aber natürlich auch mit georefenzierten Mikrodaten erfolgen (z. B. Twitter-Datensätze, Verkehrszählungen). Dabei werden sowohl das Homogenitätsprinzip als auch funktionale Verflechtungen berücksichtigt.
Die konstruktivistische Perspektive basiert vor allem auf dem diskursiven Regionsbegriff.
1.4Normative Zugänge:
Wie entwickelt man Regionen ?
In diesem Kapitel haben wir uns bisher vor allem mit der analytischen und konzeptionellen Dimension der Regionalentwicklung beschäftigt. Der Begriff Regionalentwicklung geht aber darüber hinaus, da er neben der analytischen Sicht auch einen normativen Gehalt umfasst. Während die analytische Sicht danach fragt, warum sich Regionen in welcher Weise entwickelt haben, so fragt die normative Sicht danach, was getan werden kann bzw. sollte, damit sich Regionen zukünftig ‚besser‘ entwickeln können – und dieses ‚besser‘ wird sehr unterschiedlich definiert (z. B. aus Perspektive einer Naturschützerin oder eines Bürgermeisters einer Abwanderungsgemeinde). Auf diese hochgradig politischen Fragen gibt es also keine einfachen Antworten: In der regionalen Dynamik kommen zahllose Einflussfaktoren zusammen, deren Einzeleffektive und additiven Konsequenzen kaum zu messen sind. Noch schwieriger ist es, den Einsatz von Instrumenten der Regionalentwicklung so zu organisieren, dass das gewünschte Ergebnis auch erreicht wird. Nicht jede rechtliche Vorschrift wird umgesetzt, manches Förderprogramm führt zu so genannten Mitnahmeeffekten (d. h. Maßnahmen würden ohnehin durchgeführt, die Fördermittel, die dafür zur Verfügung stehen, dann einfach ‚mitgenommen‘), manche Marketingmaßnahme verhallt ungehört. Aber selbst wenn die Maßnahmen als solche greifen, so führt dies nicht immer zu gewünschten Effekten der Regionalentwicklung. Wenn beispielsweise einzelne Gemeinden in einer Abwanderungsregion stark auf Neubaugebiete und familienfreundliche Infrastrukturen setzen und hierbei auch Fördergelder von übergeordneten Ebenen abrufen – dann mag das Zuwanderungsplus zeitweise positiv für die Schulauslastung und das örtliche Einkommensteuer-Aufkommen sein, auch wenn zugleich die Kosten für die Infrastruktur steigen, wie z. B. für Straßen und Kanäle. Auf regionaler Ebene kann dies allerdings ein Null-Summen-Spiel sein, indem die benachbarten Gemeinden eine verschärfte demographische Problematik verspüren und ihrerseits Strukturhilfen einfordern. Die Gretchenfrage lautet vor diesem Hintergrund, wie viel steuerndes Eingreifen in regionale Entwicklung sinnvoll ist, und auf welcher räumlichen Ebene anzusetzen ist – im konkreten Beispiel der Baugebietsausweisungen stehen die Bauleitplanung der einzelnen Gemeinde, interkommunale Zusammenarbeit und die regionalplanerische Koordinierung als Optionen zur Verfügung.
Ein anderes prominentes Beispiel sind wirtschaftspolitische Entscheidungen: Bei drohenden Unternehmenskonkursen wird häufig diskutiert, ob die drohenden sozialen Auswirkungen in bestimmten Regionen nicht Anlass sind, um mittels staatlicher Intervention ‚das Schlimmste‘ zu verhindern. Im Falle des Baukonzerns Holzmann wurde dies 1999 bejaht, der Konzern ging 2002 dennoch in Konkurs; im Falle der Drogeriemarktkette Schlecker wurde dies 2012 verneint und der Konkurs griff unmittelbar; im Falle des Automobilherstellers Opel wurden staatliche Stützungen 2009 ebenfalls verneint, und das Unternehmen hat sich aus eigener Kraft stabilisiert. In jedem Fall ging die Entscheidung über öffentliche Unterstützung mit sehr kontroversen und hochrangigen Debatten in Medien und Politik einher. Auch hier stellt sich die Frage nach der Rolle der öffentlichen Hand.
An dieser Stelle blenden wir bewusst aus, welches die konkreten Ziele von normativer Regionalentwicklung jeweils sind: Ob es um wirtschaftliches Prosperieren geht, um soziale Ausgewogenheit, ökologische Stabilität, eine landschaftsgerechte Entwicklung – das bleibt hier zunächst offen. Auf diese Fragen kommen wir bei den Handlungsfeldern zurück (s. Kap. 3).
Unabhängig von konkreten Zielen kann man zwei Grundperspektiven auf die Entwicklung von Regionen unterscheiden – das Gleichgewichtspostulat und die Polarisierungsthese. Diese Perspektiven werden häufig in wirtschaftspolitischen Debatten in Bezug genommen, aber sie gehen weit darüber hinaus.
1.4.1Das Gleichgewichtspostulat
Die liberale, (neo-)klassische Sichtweise geht davon aus, dass räumliche Ungleichheiten und Krisensymptome nur kurzfristige, vorübergehende Erscheinungen sind, die sich in einer funktionierenden Marktwirtschaft automatisch auflösen. Diese Sichtweise ist der neoklassischen Ökonomie und dem politischen Liberalismus stark verbunden (Neck & Schneider 2013).
Grundlage dieser Sichtweise ist die ungehinderte räumliche Mobilität von Arbeit und Kapital – beides ‚sucht sich selbst‘ den optimalen Ort. In diesem freien Spiel der Kräfte sind regionale Krisen normale Erscheinungen, um für bessere, innovativere Dinge Platz zu schaffen. Schumpeter (1993 [1942]) bezeichnet diesen Prozess als „schöpferische Zerstörung“. Im Falle von Unternehmenskonkursen bzw. Branchenkrisen in bestimmten Regionen geht die klassische Sicht davon aus, dass entweder neue Investoren die Region als lohnenswerten Investitionsort für sich entdecken (Mobilität von Kapital) oder die unterbeschäftigten oder schlecht bezahlten Beschäftigten in anderen Regionen deutlich bessere