[49]2. Geschichte des Kreativen Schreibens
Wenngleich unbestritten ist, wann die Disziplin des Kreativen Schreibens entsteht, wann ihre ›Geburtsstunde‹ anzusetzen ist,146 bleibt festzuhalten, dass mit Blick auf deren über hundertjährige Geschichte eine Fülle von Strömungen existieren, die nebeneinander bestehen und wechselseitigen Einfluss aufeinander ausüben.147Myers, D.G. In Rekurs auf die Positionen D.G. MyersMyers, D.G.148 erklärt Barbara GlindemannGlindemann, Barbara, dass insbesondere zwei ›Bewegungen‹ als Wegbereiter des heutigen Verständnisses von Kreativem SchreibenWegbereiter des Kreativen Schreibens gelten:149Glindemann, Barbara Einerseits befördern jene IdeenIdee dessen Ursprünge, die den so genannten amateur writers’ clubs zugeschrieben werden, d.h. literarischen Salons des späten 19. Jahrhunderts, die in den Vereinigten Staaten nach europäischem Vorbild um 1880 eine Konjunktur erleben. In diesen Clubs gehören Schreibspiele zum festen Repertoire; die Arbeitsweise ihrer Mitglieder lässt sich mit derjenigen heutiger SchreibworkshopsSchreibworkshop vergleichen.150Myers, D.G. Andererseits ist man zur gleichen Zeit an amerikanischen Universitäten darum bemüht, die LiteraturwissenschaftenLiteraturwissenschaft mittels eines (schon damals) verloren geglaubten PraxisbezugsPraxisbezug zu beleben. Denn die neusprachlichen Philologien hatten das konkrete Schreiben sowie die Lehre darüber, wie literarische Texte entstehen, zunächst vehement ausgeklammert und dieses Feld der ›klassischen‹ RhetorikRhetorik überlassen151 – eine Entwicklung, die es zu überwinden und neu disziplinär zu konstituieren galt.
Anstatt jedoch entsprechende curriculare Teilbereiche an die LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft anzugliedern, werden gleich zwei neue Studienfächer entwickelt, um den Ansprüchen an die universitäre InstitutionalisierungUniversitäre Institutionalisierung und KompositionslehreKompositionslehre derart ›praktischer‹ Kursformen gerecht zu [50]werden: Zum einen löst die literarische Kompositionslehre mit dem Ausbau und der Spezialisierung der Hochschulausbildung im 19. Jahrhundert die traditionelle RhetorikRhetorik ab, die bis dahin ein vierjähriges Studium umfasste; an ihre Stelle rücken zweisemestrige Kompositions-Kurse, die Studierende aller Fachbereiche in formaler Regelrhetorik und zunehmend auch im Hinblick auf grammatische bzw. stilistische Fertigkeiten schulen sollen. Zum anderen werden zum ersten Mal explizit unter dem Schlagwort des ›Creative Writing‹ Schreib-Kurse angeboten, die ausschließlich für Studentinnen und Studenten der Literaturwissenschaft bestimmt sind; sie wirken deren Theoretisierung entgegen und befördern den geforderten PraxisbezugPraxisbezugGeforderter Praxisbezug.152Glindemann, Barbara Sowohl die Kompositionslehre als auch das Creative Writing stellen zentrale Bezugsgrößen für die sich anschließende, bahngreifende Ausbreitung einer Schreib-(Aus-)Bildung an US-amerikanischen Universitäten zwischen 1880 und 1940 dar; ihr immenser Erfolg lässt sie zu Grundpfeilern der Hochschullandschaft der Vereinigten Staaten avancieren, was auch in der heutigen Gegenwart nachhaltig festzustellen ist. Aus diesem Grund werden die bedeutendsten akademischen Schreib-Kurs-Modelle im Folgenden akzentuiert, ohne damit eine lineare Entwicklung behaupten oder den Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen.
2.1. Creative Writing in den USA
Im Vordergrund der zum Ausgang des 19. Jahrhunderts entstehenden US-amerikanischen ›Schulen‹ des Kreativen Schreibens stehen die Fragen, auf welche Weise die etablierten LiteraturwissenschaftenLiteraturwissenschaft, obgleich sie sich dem einzelnen ästhetisch-literarischen Text widmen, durch Reflexion und Anwendung des Schreib-Prozesses, d.h. der Bedingungen und der konkreten, selbst gestalteten Realisierung des Schreibens, zu komplettieren sind bzw. auch worin die Verbindung zwischen LiteraturtheorieLiteraturtheorie und literarischer PraxisLiteraturtheorieLiteraturtheorie und literarischer Praxis liegt und ob sich das Kreative Schreiben als eigenständige Disziplin in diesem Zwischenbereich zu behaupten vermag. Deshalb entsteht aus den ersten Creative Writing-Kursen in den USA – [51]»zunächst nur als eine Art Schreib- und Ausdrucks-Training für Studierende gedacht« – bald ein Lehrprogramm, »in dem das literaturwissenschaftliche Studium um einen praxisbezogenen Teil ergänzt wurde«, der »nicht nur formale und handwerkliche Sicherheit in den Techniken des Schreibens« vermittelt: »Auf dem Weg über die eigene, reflektierte Schreiberfahrung« sollen »auch Einsichten in jene Kreativitätsprozesse ermöglicht werden, die bei der Entstehung eines literarischen Werks mitwirken.«153Ortheil, Hanns-Josef
2.1.1. Ursprünge des Creative Writing
Ab 1880 betonen diese Schreib-Programme mithin die Bedeutung der ›kreativen‹ und ›konstruktiven‹ Aspekte literarischer Werke, und zwar in dem Bewusstsein, dass ›schöne‹ Literatur im akademischen Rahmen für mehr genutzt werden kann als für rein philologische Forschung – Barrett WendellWendell, Barret, ein Gründungsvater der KompositionslehreKompositionslehre und einer der ersten SchriftstellerSchriftsteller, der an einer amerikanischen Universität lehrt, initiiert daher ein Bildungs-ExperimentEin Bildungs-Experiment, das in dem Wunsch zum Ausdruck kommt, Studierenden einen geläufigen unprätentiösen, versierten und kreativen Schreibstil zu vermitteln.154Wendell, Barret Zu dieser Vorstellung gehört nicht nur, dass »everyday students«155 eine tägliche Schreib-Etüde von 100 bis 800 Wörtern zu absolvieren haben, die auf einer alltäglichen Beobachtung oder Erfahrung beruht,156Glindemann, Barbara sondern auch, dass die Anleitung zum Schreiben davon abgelöst wird, rein sprachliche Strukturen zu untersuchen; vielmehr soll herausgefunden werden, was einen Text (zumal einen literarischen Text) letztendlich auszeichnet.
Damit geht es bei diesem (frühen) Kreativen Schreiben um Wert- und Qualitätsmaßstäbe von Literatur, die eine »soziale Trägergruppe«157Kanon dazu bringt, ein literarisches Werk durch »(Wertungs-)HandlungenHandlung«158 mittels einer geradezu ›unsichtbaren [52]HandHand‹159MedientheorieHand auszuwählen und zu pflegen. WendellWendell, Barret erklärt wiederum in seinem einflussreichen BuchBuch English CompositionEnglish Composition, dass es sein Anliegen sei, einen jungen Schreibenden darin anzuleiten, das Wesen des Schreibens zu erkennen und zu erfassen.160Wendell, Barret Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer seiner Kompositionskurse lernen nicht unbedingt, wie Literatur erschaffen werden kann; sie lernen aber durch und mittels dieser. Wichtig erscheint aus Wendells Sicht also weniger die literarische FormForm als vielmehr die persönliche Erfahrung mit jener; im Zentrum des Studiums steht primär die Begegnung mit Literatur und erst an zweiter Stelle die Analyse formaler Qualitäten. Vor der Folie des vorangegangenen Kapitels gesagt: Wendell schafft für seine Studierenden eine Kreative Schreib-SzeneSchreib-Szene, die zu einer beachtlichen Popularität seiner Kurse und Workshops führt.
Zu dieser Auffassung zählt, dass die traditionelle Ausrichtung literaturwissenschaftlicher Lektüren zunehmend in Frage gestellt wird – in dem Bestreben, eine institutionelle AlternativeEine institutionelle Alternative im Literaturstudium anzubieten, in der Überzeugung, dass Literatur auch eine produktive Aktivität bedeutet und somit produktionsästhetische Blickwinkel innerhalb der universitären Ausbildung Beachtung finden müssen.161Myers, D.G. Auf diese Ansichten reagieren die US-amerikanischen Fakultäten um 1900 und verankern das Schreiben zunehmend in ihren Curricula. Ende des 19. Jahrhunderts dominiert WendellsWendell, Barret Schreib-Methodik die Universitätslandschaft Amerikas.162
Barrett WendellWendell, Barret
wurde am 23. August 1855 in Boston als Sohn von Jacob und Mary Bertholdi Wendell geboren, schloss seine universitäre Ausbildung 1877 in Harvard ab, wo er 1880 Dozent im Fach Englische Sprache und Literatur wurde. Von 1888 bis 1898 war er dort als wissenschaftlicher Assistent von Adam Sherman Hill, dem Inhaber der Bylston-Professur für RhetorikRhetorik, von 1898 bis zu