Naheliegend war, dass diese Neugewichtung praktischer BedeutungshorizontePraktische Bedeutungshorizonte des Schreibens mit der Privilegierung von ›Theorie‹ als eine internationale lingua franca der KulturwissenschaftenKulturwissenschaft einhergegangen ist.31New Humanities Die theoretische Herausbildung des ›Kreativen Schreibens‹ trug dazu bei, die praktischen Methoden bei der Auseinandersetzung sowohl mit literarischen/sprachlich-[22]textlichen Kunstwerken wie mit deren genuiner Konstruiertheit als ästhetische Kategorien nicht aus den Augen zu verlieren.32New Humanities
1.1.1. Was ist KreativitätKreativität?
In seiner heute vertrauten Alltagsbedeutung hat sich der deutsche Ausdruck ›Kreatives Schreiben‹ also als Lehnübersetzung aus dem Englischen herausgebildet. Der wortgeschichtliche Vergleich der beiden Ausdrücke ›KreativitätKreativität‹ und ›Schreiben‹ bzw. ursprünglich Creativity und Writing lässt dabei eine Spannung deutlich werden: Kreativität kann, im 19. Jahrhundert vom lateinischen creare (hervorbringen/er-schaffen, zeugen/gebären, schaffen/ins Leben rufen, verursachen/bewirken) herkommend, wovon sich u.a. das deutsche aktive ›Neu-Schöpfen‹ herleitet, auch ein passives Geschehen-Lassen (lat. crescere) bezeichnen.33 Gegenüber der Nicht-Kreativität werden darunter bestimmte Kriterien gefasst, die die bereits oben erwähnten Faktoren Originalität/Neuartigkeit, aber auch Flexibilität, Einfallsreichtum und OffenheitFlexibilität, Einfallsreichtum und Offenheit betreffen. Paul J. GuilfordGuilford, Paul J. spricht beispielsweise in einem stark beachteten Vortrag aus dem Jahr 1950 von Creativity als einem ›Arbeitsbegriff‹ und versteht darunter ein Verhaltensmuster, unter das ein Sensorium für aufkommende Probleme, d.h. Einfühlungsvermögen, ebenso fällt wie ›flüssiges‹ Denken, d.h. geistige Flexibilität beim – mühelosen – Wechseln von Bezugssystemen, oder analytische Fähigkeiten, die zur Umorganisation respektive Neudefinition des Wahrgenommenen anleiten; zudem zählt er das Verstehen der Komplexität begrifflicher und symbolischer Strukturen sowie individuelle Motivationsmöglichkeiten zu diesem Bereich.34Guilford, Paul J. Der Begriff ›Kreativität‹ verweist auf eine grundsätzliche kulturelle Problematik: auf den Wunsch eines jeden innerhalb der GegenwartskulturGegenwartskultur [23]kreativ sein zu wollen, einerseits und andererseits auf den Umstand, nicht kreativ sein zu können; Lösungsperspektiven bietet jedoch die in dieser Diskussion immer mitgedachte Überzeugung, solche Schwierigkeiten mit Hilfe von Training und Übung zu überwinden.35Kreativität
Andreas Reckwitz, der diesen sozialen ProzessKreativitätKreativität als sozialer Prozess aus kultursoziologischer Sicht ausführlich beleuchtet hat, betont noch einmal zusammenfassend die hierfür enorm wichtigen Momente des Neuen, der Innovation sowie der Schöpfung und weist der Kreativität eine doppelte Bedeutung zu:
Zum einen verweist sie auf die Fähigkeit und die Realität, dynamisch Neues hervorzubringen. KreativitätKreativität bevorzugt das Neue gegenüber dem Alten, das Abweichende gegenüber dem Standard, das Andere gegenüber dem Gleichen. Diese Hervorbringung des Neuen wird nicht als einmaliger Akt gedacht, sondern als etwas, das immer wieder und auf Dauer geschieht. Zum anderen nimmt Kreativität Bezug auf ein Modell des ›Schöpferischen‹, das sie an die moderne FigurFigur des Künstlers, an das Künstlerische und ästhetische insgesamt zurückbindet. Es geht um mehr als um eine rein technische Produktion von Innovationen, sondern um die sinnliche und affektive Erregung durch das produzierte Neue. Das ästhetisch Neue wird mit Lebendigkeit und ExperimentierfreudeLebendigkeit und Experimentierfreude in Verbindung gebracht, und sein Hervorbringer erscheint als ein schöpferisches Selbst, das dem Künstler analog ist. Das Neuartige im Sinne des Kreativen ist dann nicht lediglich vorhanden wie eine technische Errungenschaft, es wird vom Betrachter und auch von dem, der es in die Welt setzt, als Selbstzweck sinnlich wahrgenommen, erlebt und genossen.36Kreativität
Dass die KreativitätKreativität, wie sie hier erklärt wird, heute das Zentrum eines dominanten »sozialen Kriterienkatalogs« darstellt, der einen »ästhetischen Kapitalismus«37 innerhalb von Creative Class,38 Creative Industries und deren Creative Cities,39 ein »Kreativitätsdispositiv[24]«40KreativitätDer Imperativ des Kreativen hervorgebracht hat, ist mit Blick auf das Kreative Schreiben eine wichtige Beobachtung: Die Orientierung der GegenwartskulturGegenwartskultur an der Kreativität betrifft Arbeitstechniken des Schreibens in gleicher Weise wie Organisationen und Institutionen des Kulturbetriebs, des literarischen Lebens, des Bildungssektors oder der MassenmedienMassenmedium und des DesignsDesign.41Kreativität Das kritische Potential einer »universalisierten Kreativitätsorientierung« einschließlich deren »Imperativen«,42Kreativität worauf bereits Niklas Luhmann Ende der 1980er Jahre hingewiesen hat,43Kreativität darf für die Bestimmung und Abgrenzung des Konzepts ›Schreiben‹ nicht unterschätzt werden; vom Impuls der Kreativität lässt sich ein kritischer Bogen zu dessen näherer Begriffsbestimmung schlagen.
1.1.2. Was ist Schreiben?
Die SchreibforschungSchreibforschung hat eine Vielzahl an Bestimmungsmöglichkeiten vorgeschlagen, die in ihrer linguistisch-pragmatisch orientierten Ausprägung ›Schreiben‹ und ›TextproduktionTextproduktion‹ gegeneinander diskutieren44Ludwig, Otto und in ihrer literaturwissenschaftlich-medienkulturtheoretischen Erscheinung die Frage, was ›Schreiben‹ (tatsächlich) ist, in verschiedenen Phänomenologien philosophischer Provenienz ausführen.45Stingelin, Martin Während die erstgenannte das Schreiben in vier DimensionenDimensionen des Schreibens bestimmt – als Handwerk (technologische Dimension), ZeichenproduktionZeichenproduktion (semiotische Dimension), sprachliche HandlungHandlung (linguistische Dimension) und Integration in einen Handlungszusammenhang (operative Dimension) –, hebt zweitgenannte dessen »handwerkliche, technologische Dimension [25]als unabdingbare Voraussetzung« hervor.46 Diese Hervorhebung gewinnt vor dem Hintergrund der etymologischen Herkunft des Begriffs ›Schreiben‹ weiteres Gewicht. Das Wort ›Schreiben‹ stammt, wie Vilém FlusserFlusser, Vilém medientheoretisch erläutert hat, vom lateinischen scriberescribere heißt ritzen; graphein heißt graben, das ›ritzen‹ bedeutet, wobei das griechische graphein als weitere Wortherkunft zunächst einmal ›graben‹ meint:
In diesem Sinn sind etwa die von einem Stilus in Lehm hinterlassenen SpurenSpur ›Typographien‹. Wie wir aber wissen, meint das Wort ›graphein‹ im allgemeinen Sprachgebrauch ›schreiben‹. Es meint das Graben von Schriftzeichen – eben dieser Spuren, welche klassifizieren, vergleichen und unterscheiden sollen. Somit ist das Wort ›Typografie‹ im Grunde ein Pleonasmus, der mit ›Grubengraben‹ oder ›Schriftzeichenschreiben‹ übersetzt werden könnte. Es genügt vollauf, von ›schreiben‹ zu sprechen.47Flusser, Vilém
Demnach »war Schreiben« nach FlusserFlusser, Vilém »ursprünglich eine GesteGeste, die in einen Gegenstand etwas hineingrub und sich dabei eines keilförmigen Werkzeugs (›stilus‹) bediente«.48 Zur Begriffserläuterung des Schreibens ist Flussers Theorie nicht nur einschlägig; vornehmlich seine IdeeIdee dieser ›Geste‹Die »Geste des Schreibens« (V. Flusser) leitet dessen diskursive Verortung bis heute. Während Flusser in seinem Werk Die Schrift aus dem Jahr 1987, aus der oben zitiert worden ist, seine Gedanken zur ›Geste des Schreibens‹ eingeführt hat, demonstriert ein gleichnamiges Kapitel aus seinem Versuch einer PhänomenologiePhänomenologie von 1991 diese ausführlich. Darin kommt er erneut auf den etymologischen Kontext zurück, den er metaphorisch fasst. Zu Beginn heißt es:
Es handelt sich darum, ein MaterialMaterial auf eine Oberfläche zu bringen (zum Beispiel KreideKreide auf eine schwarze TafelTafel), um FormenForm zu konstruieren (zum Beispiel BuchstabenBuchstaben). Also anscheinend um eine konstruktive GesteGeste: Konstruktion = Verbindung unterschiedlicher Strukturen (zum Beispiel Kreide und Tafel), um eine neue Struktur zu formen (Buchstaben). Doch das ist ein Irrtum. Schreiben heißt nicht, Material auf eine Oberfläche zu bringen, sondern an einer Oberfläche zu kratzen, und das griechische Verb graphein beweist das. Der Schein trügt in diesem Fall. Vor einigen tausend Jahren hat man damit begonnen, die Oberflächen mesopotamischer Ziegel mit zugespitzten Stäben einzuritzen, und das ist der Tradition zufolge der Ursprung der Schrift. Es ging darum, Löcher zu machen, die Oberfläche zu durchdringen[26], und das ist immer